Goethe Gesellschaft Gera e.V. » Rückblick

Goethe als Freimaurer

Vortrag von Dr. Gerhard Müller, Jena, am 4. Dezember 2019

Goethe war Mitglied der Weimarer Loge „Amalia“. In seinen Werken sind viele Bezüge zur Freimaurerei zu erkennen. Nach einem Gesuch beim Meister vom Stuhl, dem Geheimen Rat Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch, wurde Goethe am 23. Juni 1780 als Lehrling in die Loge aufgenommen. Genau ein Jahr später wurde er zum Gesellen befördert, und den Meistergrad erhielt er am 2. März 1782, unmittelbar nach der Meistererhebung von Herzog Carl August.

Da die Weimarer Loge bereits 1783 ihre Tätigkeit einstellte, war die Freimaurerei in Weimar für einige Jahrzehnte nicht mehr aktiv präsent. Erst mit der Neugründung der Loge 1808, bei der eine Umstellung vom früheren System der strikten Observanz auf die moderne Lehrart Friedrich Ludwig Schröders erfolgte, findet man Goethe wieder in aktiver Logenarbeit. Allerdings erschien er nur selten in den Verrsammlungen, an seiner Stelle erschien oft Sohn August.

Jedoch haben ihm die geheimen Wissenschaften nicht mehr noch weniger gegeben, als er hoffte, wird in einem seiner Briefe deutlich. Bereits 1781 warnte er seinen Schweizer Freund Johann Caspar Lavater: „Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freiem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe.“

Es scheint hier, dass Goethe kein wirliches Interesse an der Freimaurerei gehabt habe. Allerdings wird man kaum behaupten können, er habe das freimaurerische Ideal der aufklärerischen Menschenveredlung nicht ernst genommen, ist doch sein eigenes literarisches Werk wie die gesamte Weimarer Klassik eigentlich nichts anderes, als ganz im Sinne des Ideals der Freimaurerei eine beständige Arbeit an der Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen zu sein.

Die erste Loge auf dem Boden des Herzogtums namens „Zu den drei Rosen“ entstand 1744 als Tochtergründung der Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ in Jena. Nach dem Siebenjährigen Krieg konnte die Berliner Hegemonie in Mitteldeutschland nicht mehr aufrecht erhalten werden, und ein anderer, von Kursachsen ausgehender Freimaurerbund suchte die Logen unter seinen Einfluss zu bringen. In Jena geschah dies mit Hilfe eines geheimnisvollen Fremden namens Johann Friedrich Johnssen, der als Emissär der geheimen Oberen des Templerordens auftrat. In einem raffinierten Coup gelang es ihm 1763, die Jenaer Freimaurer dazu zu bewegen, sich von der Berliner Mutterloge zu lösen.Fritsch, ein junger kursächsischer Adliger, wurde schließlich dort Meister vom Stuhl. Man war auf Erkenntnis templerischer Geheimnisse erpicht. Im Mai 1764 wurde in einem Seitental der Saale, in Altenberga, der neue Freimaurerbund gegründet. Dort kam es zum Eklat. Als Johnssen die Geheimnisse der Templer offenbaren sollte, verschwand er plötzlich, angeblich auf Geheiß der geheimen Oberen, mitsamt der Ordenskasse. Das Ziel war dennoch erreicht: der Zusammenschluss der in Altenberga vertretenen Orden zum „Orden vom heiligen Tempel zu Jerusalem“, meist kurz „Orden der strikten Observanz“ genannt. Der neue Bund unterwarf die angeschlossenen Logen einer straffen bürokratischen Struktur und militärischen Disziplin, deren Kernstück neben dem Bekenntnis zum christlichen Glauben die eidliche Verpflichtung zum „unbedingten Gehorsam“ gegenüber den bekannten und unbekannten Ordensoberen bildete. Die „Rosenloge“ in Jena wurde geschlossen und dafür die Loge „Amalia zu den drei Rosen“ in Weimar, ebenfalls unter Fritschs Leitung, neu gegründet. Johnssen wurde Monate später als Betrüger und Hochstapler aufgegriffen und inhaftiert.

Die „Strikte Observanz“ geriet in Folge einer nicht abreißenden Kette von Hochstaplerskandalen in Bedrängnis, in den Logen wurde zudem eine zunehmende Kritik an der Tempelherrenlegende und dem Treiben des Inneren Ordens laut. Manche Kräfte strebten eine radikal-aufklärerische Reform der Freimaurerei an. In Weimar war Johann Joachim Christoph Bode die treibende Kraft. Ein im Sommer 1782 nach Wilhelmsbad bei Hanau einberufener Konvent der Strikten Observanz, der über die Zukunft des Ordens entscheiden sollte, wurde auch von Goethe, wie seine Briefe zeigen, mit Spannung verfolgt. Das Ergebnis von Wilhelmsbad war nach fünfzig Sitzungstagen ein Kompromiss: Die Legende, dass die strikte Observanz die Fortsetzung der mittelalterlichen Tempelherren sei und der Bezug auf „unbekannte Obere“ mit unbedingter Gehorsamspflicht wurden für obsolet erklärt. In diesem Sinne führte Bode am 10. Dezember 1782 auch Goethe und Carl August in den Inneren Orden ein und erhob sie zu „schottischen Meistern“. Die Strikte Observanz firmierte jetzt als „Orden der wohltätigen Ritter der heiligen Stadt“.

Goethe und Carl August erlangten auf diese Weise Zugang zu den „unterirdischen Gängen“. Aber die erhoffte Möglichkeit, darin zu agieren, blieb ihnen dennoch verwehrt, da die in Wilhelmsbad beschlossene Verlegungdes Ordensdirektoriums nach Weimar nicht vollzogen wurde.

Aber die Alternative war schon vorbereitet. Schon in Wilhelmsbad hatte der umtriebige Bode Verbindungen mit dem 1776 von Adam Weishaupt gegründeten Orden der Illuminaten geknüpft, der eine radikal aufklärerische Programmatik vertrat und sich nun als Ersatz für den Inneren Orden der Strikten Observanz anbot. Im März 1783 traten auch Goethe (Abaris), Carl August (Äschylos) und Herder (Damasus) dem Illuminatenorden bei. Der Orden wurde allerdings seit 1785 reichsweit verfolgt.

Goethe nutzte die Netzwerke der Freimaurerei und des Illuminatenordens sogar während seiner Italienreise. Die von dem dänischen Freimaurer und Illuminaten Friedrich Münter gegründete Illuminatenloge in Rom kontaktierte er wohlweislich nicht, denn in Rom, wo die päpstliche Inquisition lauerte, konnte es lebensgefährlich werden, wenn man als Freimaurer denunziert wurde. Und Goethe wurde ja geheimdienstlich überwacht. Im aufklärungsfreundlichen Neapel war die Aufnahme freimaurerischer Kontakte leichter möglich. Der in der „Italienischen Reise“ beschriebene geheimnisvolle Empfang bei der „Principessa ***“, wo Goethe den bedeutenden Staats- und Rechtsphilosophen Gaetano Filangieri kennenlernte, besaß einen illuminatischen Hintergrund, gehörte Filangieri doch der ebenfalls von Münter gegründeten Illuminatenloge in Neapel an. Ohne jenes Netzwerk wäre es Goethe jedenfalls nicht möglich gewesen, die Identität des geheimnisvollen Wundermannes Graf Cagliostro, dessen Gründung einer „ägyptischen“ Freimaurerloge in Paris ebenso wie seine Verwicklung in die spektakuläre Halsbandaffäre der französischen Königin Marie Antoinette damals die europäische Öffentlichkeit beschäftigte, bei seinem Aufenthalt in Palermo aufzuklären.

In Plaermo, wo sich Goethe wie üblich incognito als Philipp Möller aufhielt, war seine Identität jedenfalls schon bei seiner Ankunft bekannt. So wurde er zur Ostertafel des Vizekönigs von Sizilien, des Fürsten Francesco d’Aquino, gebeten. Dort traf er, wie er in der „Italienischen Reise“ schilderte, einen alten Bekannten, den Malteserritter Graf Antonio Statella wieder, den er einst bei einem Aufenthalt am Hof des Kurmainzer Statthalters, des Freiherrn Carl Theodor von Dalberg in Erfurt kennengelernt hatte und der sich jetzt „mit bedenklichem Anteil“ nach ihm und den Weimarer Bekannten erkundigte. Auch in Palermo wirkte sich Goethes Freimaurertum förderlich aus, war doch d’Aquino das Oberhaupt der Strikten Observanz im Königreich Neapel. Königin Maria Carolina ließ Goethe ausführliche Dossiers über Cagliostro alias Giuseppe Balsamo zuspielen und ermöglichte ihm sogar einen Besuch bei dessen Familie in Palermo. So konnte man die Authentizität einer gerade in Paris erschienenen Schrift, in der die Belege für Cagliostros wahre Identität abgedruckt worden waren, durch einen unabhängigen Gewährsmann von internationaler Reputation bestätigen lassen.

Goethes Cagliostro-Recherchen sind nicht die einzigen Indizien für seine Einbindung in illuminatische Projekte. So votierte er in einem Brief aus Italien für die Berufung des Philosophen Carl Leopold Reinhold als Professor nach Jena, und ebenfalls 1787 erfolgte die noch vor seiner Abreise 1786 eingeleitete Berufung des Illuminaten Cornelius Johann Rudolf Riedel als Erzieher für den Erbprinzen Carl Friedrich. Weitere Berufungen von Illuminaten erfolgten.

Wir finden die literarische Verarbeitung von Goethes Wanderungen durch die Gefilde der Freimaurer und Illuminaten vor allem in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, wo wir uns bei der Erzählung über Lotharios Schloss und die Gesellschaft im Turm wohl zu Recht an das Gothaer Schloss Friedenstein mit seinem geheimnisvollen Park erinnert fühlen dürfen. In diesem weitläufigen Schloss mit seinem Bibliotheksturm, wo Herzog Ernst II. residierte, studierte und Sterne beobachtete, befand sich auch das Ordensarchiv der Illuminaten, die später so genannte „Schwedenkiste“, zu der auch der berühmte, heute als Kriegsbeute in Moskau lagernde und lange Zeit unzugängliche 10. Band mit den Personalakten der Illuminaten gehört.

Die dritte und letzte Phase in Goethes Freimaurerkarriere, die sich mit der 1808 neugegründeten Weimarer „Amalia“ verband, war kein Wunschkind des Dichters, war doch dieses lokale Kapitel für ihn seit 1789 eigentlich abgeschlossen. Noch in seiner Silvesterdenkschrift von 1807 hatte er sich vehement gegen ein in Jena geplantes Logenprojekt ausgesprochen. Wenn schon, dann sollte die neue Loge wenigstens nicht in dem anarchischen Jena, sondern wie einst die alte „Amalia“ in der Residenzstadt Weimar entstehen. Schließlich ließ sich auch der Herzog überzeugen.

Der heikelste Teil dieser Operation war der Übergang von der Strikten Observanz zum einfachen Drei-Grad-System des Hamburger Theaterdirektors und Freimaurer-Reformers Friedrich Ludwig Schröder. Goethe sah hierzu zwei Wege: der erste, ihm persönlich sympathische, bestand, da die alte 1783 stillgelegte „Amlia“ formal immer noch existierte, darin, dass sie durch ihren alte Meister vom Stuhl, Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch, wiedereröffnet würde, um sodann das neue System beschließen zu lassen. Falls Fritsch sich dem verweigere, sollte man sich die Logeninsignien aushändigen lassen und an den Meister vom Stuhl der Rudolstädter Loge „Günther zum stehenden Löwen“ übergeben. Dies war der bereits nach Schröders System arbeitende Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz, an den die Bitte herangetreten wurde, die neue Loge zu eröffnen. Aber Fritschs Verhältnis zum Herzog war bereits irreparabel beschädigt. Goethe schlug daher eine Wallfahrt nach Rudolstadt vor, da eine Neugründung der Loge nicht zu umgehen war. Als Stiftungstag wurde der 24. Oktober 1808 gewählt, der Geburtstag der im Jahr zuvor verstorbenen Herzogin Anna Amalia, wo die Loge im Versammlungslokal der alten „Amalia“, dem Wittumspalais zu Weimar, von Friedrich Ludwig Schröder ins Leben gerufen wurde. Meister vom Stuhl wurde der Weimarer Verleger und frühere Geheimsekretär des Herzogs, Friedrich Justin Bertuch.

Mit der Loge ging es aufwärts. Von 34 Mitgliedern 1808 stieg deren Zahl auf 123 im Jahre 1815 und 147 im Jahre 1826. Goethe hatte seine eigenen Gedanken zur Loge. Er entwarf ein kultur- und erinnerungspolitisches Konzept, in dem das Weimarer Fürstenhaus zum Mittelpunkt und Impulsgeber einer Nation stilisiert wurde, die zwar nach dem Ende des Alten Reichs 1806 keinen staatlichen Zusammenhang mehr besaß, dafür aber durch Geist und Künste geeint werde. Die Umsetzung dieses Konzepts wurde nun zum Hauptinhalt seines freimaurerischen Engagements. Die „Amalia“ vermochte die ihr von Goethe und auch Wieland zugewiesene Rolle als Gralshüterin einer sich über das „klassische Weimar“ definierenden „nationalen“ und zugleich weltbürgerlich orientierten Kunst- und Bildungsreligion der Deutschen zumindest für einige Jahrzehnte zu übernehmen. Doch schon bei der Errichtung des Weimarer Herder-Denkmals 1843 konnte sich der ursprüngliche, mit freimaurerischen Symbolen ausgezierte Entwurf nicht durchsetzen. Dennoch kommt der Loge das historische Verdienst zu, an der Stilisierung des „klassischen Weimar“ zum Symbolort des Geistes der Aufklärung und Humanität im kulturellen Gedächtnis nicht nur der Deutschen, sondern der gesamten Menschheit wesentlich mitgewirkt zu haben.

Tumult im feurigen Gemüte – Goethe und Nicolai

Vortrag von Dr. Michael Knoche, Weimar, am 6. November 2019 in Gera

Der Literaturstreit zwischen Goethe und Nicolai war eine epochemachende Kontroverse. Konträr standen sich zwei Literaturauffassungen gegenüber: Der Streit artete zu einer „ästhetischen Prügelei“ aus, so der Titel eines zeitgenössischen Buches.

Alles begann mit Goethes „Leiden des jungen Werther“, mit dem einsetzenden Werther-Fieber angesichts unglücklich verlaufender Liebe. Eine junge Frau ertrank in der Ilm – und sie soll einen „Werther“ in der Tasche gehabt haben. Sie blieb nicht der einzige Fall. All diese Selbstmordereignisse veranlassten Goethe, der zweiten Auflage ein Motto voranzustellen: Sei ein Mann und folge mir nicht nach.

Christoph Friedrich Nicolai (1733 – 1811) war ein deutscher Schriftsteller, Verlagsbuchhändler, Kritiker, Verfasser satirischer Romane und Reisebeschreibungen, Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, Freund Lessings, Zelters und Mendelssohns, Gegner Kants und Fichtes.

Er fühlte sich 1775 veranlasst, mit einer eigenen Fassung des Schlusses von „Werther“ zu reagieren. Dieser Text „Freuden des jungen Werther“ umfasste 60 Seiten. Manche Namen sind verändert, im Mittelpunkt steht eine belehrende Unterhaltung zwischen Hans und Martin. Albert und Lotte sind auch nicht verheiratet, sondern verlobt. Albert überlässt Werther seine Pistole, die aber nicht mit einer Patrone, sondern mit einer Blase von Hühnerblut geladen ist. Nach dem Schuss bietet er an, auf seine Braut zugunsten Werthers zu verzichten. Die „Leiden“ beginnen nach einigen Jahren Ehe mit Lotte, bis beide auseinander gehen. Die „Freuden“ beginnen erneut, als es Albert gelingt, die Eheleute wieder zusammenzubringen. Nach 16 Jahren haben sie acht Kinder: Sie sind ein Anblick errungener gesunder Gelassenheit.

Es heißt, Nicolai habe sich gegen Goethes „Werther“ gar nicht als Kunstwerk an sich gewandt. Vielmehr sei die schlimme Wirkung des Buches im bürgerlichen Lager sein Thema gewesen. Nicolais Schluss, freilich, verändert alles. Ohne den Selbstmord Werthers hängen Personen und Ereignisse gewissermaßen in der Luft.

Hier setzen die konträren literarischen Auffassungen ein. Ohne Absicht, gewollte Wirkung sei Literatur gar nicht vorstellbar, so Nicolai. Das Positive sei ihr Lebenselement. Nicolai unterstellt somit der Geschichte einen positiven Zweck. So nehmen auch die „Freuden des jungen Werther“ einen glücklichen Ausgang. Manche Zeitgenossen hielten Nicolais Text für eine reine Parodie voller Hintersinn. Aber es handelte sich gattungsmäßig um keine Parodie und unterstellte Ironie, sondern um eine kommentierende Nachdichtung.

Nicolai stellt seine auf erzieherische Wirkung bedachte Auffassung, jener des jungen, dem Sturm und Drang anhängenden Goethe gegenüber, der das Recht des Genies auf rein ästhetische, absichtslose Abfassung verteidigte.

Goethe antwortete mit drei Gedichten. Zunächst wurden sie nicht veröffentlicht, eines 38 Jahre später in „Dichtung und Wahrheit“. Da blickt er schon reichlich gelassen auf jene Episode zurück. Anders noch zur Zeit ihres leidenschaftlich geführten Streits. Die „Freuden des jungen Werther“, mit denen sich Nicolai hervortue, zeugten von dessen Beschränktheit. Am bissigsten/bösartigsten zeigt sich jedoch eine von Goethe verfasste, ersonnene Grabinschrift „Nicolai auf Werthers Grabe“, die da lautet:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,

Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“

Wie gesagt, klingt alles später doch recht versöhnlich. Auch wurde anhand der Benutzerliste klar, dass sich Goethe 1813 Nicolais Büchlein durchaus für mehrere Wochen ausgeliehen hatte. Zuvor hatte er da ein wenig geflunkert. Im Übrigen waren sie sich nur einmal – in Gotha – kurz begegnet.

Die Kampfeslust erwachte [nach der Werther-Kontroverse 1775] mit einem neuen Text: der zwölfbändigen „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781“. In diesem Werk erschien ein Text, der mit der Reise gar nichts zu tun hatte: eine Kritik an Schiller. Über hundert Seiten richteten sich gegen die Weimarische Kunstauffassung, gegen Schillers Zeitschrift „Die Horen“ und die Transzendentalphilosophie Kants. Diese Schrift erschien 1795. Nicolai machte sich zum Anwalt des Publikums, das „scholastische Spitzfindigkeiten“ [vermutlich insbesondere Schillers ästhetische Schriften gemeint] nicht mehr wolle und von denen es keinen Nutzen habe.

Hatte insbesondere Goethe auf Nicolai nicht reagiert, wurde der Streit nunmehr öffentlich ausgetragen. Dies geschah in Goethes und Schillers „Xenien“[griech. Gastgeschenke, satirische Distichen] im „Musenalmanach“. Verschiedene Verse antworten auf die „Reisebeschreibung“.

Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,
Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.

Querkopf! schreiet ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel,
Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus.

Nicolai entdeckt die Quellen der Donau! Welch Wunder!
Sieht er gewöhnlich doch sich nach der Quelle nicht um.

Nichts kann er leiden was groß ist und mächtig, drum herrliche Donau
Spürt dir der Häscher so lang nach, bis er seicht dich ertappt.

Insgesamt sind 39 Xenien gegen Nicolai gerichtet. Sogar sein Name wurde zu Nickel verhunzt. Die „Xenien“ waren recht bissig, schreckten auch davor nicht zurück, einen Schlaganfall Nicolais zu parodieren. Hier wird die Grenze zur Gemeinheit überschritten.

Rührt sonst einen der Schlag, so stockt die Zunge gewöhnlich,
Dieser, so lange gelähmt, schwatzt nur geläufiger fort.

Nicolai reagierte sofort. Seine Wertung bezog sich auf einen „Anhang zu Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797“, wo die „Xenien“ erschienen waren. Er spricht von Pöbeleien der „Götterlieblinge in Weimar“. Benennt sie als Raufbolde. Er kritisiert Schillers Arbeit „Über die ästehetische Erziehung des Menschen“ und Goethes „Wilhelm Meister“. Letzteres triebe den Frauenzimmern die Schamröte ins Gesicht. Schiller werde von Eigendünkel beherrscht, er übe Geistesdespotismus aus. Goethe und Schiller antworteten darauf öffentlich nicht mehr. Vom Sturm und Drang bis zur Romantik wurde Nicolai als platter Rationalist verspottet. Aus anfänglicher Freundschaft entstand so manche Gegnerschaft: Tieck, Wieland, Gleim. Fichte verfasste sogar eine Streitschrift „Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen“. Der lauteste Paukenschlag erfolgte allerdings in Goethes „Faust“. Vorausgegangen war eine Erkrankung des Geschmähten; er litt 1791 an einer körperlichen Störung. Eine Folge davon war die Wahrnehmung von Geistererscheinungen. Er verfiel zur Heilung auf eine damals übliche Methode: auf Blutegel, die seinem Gesäß aufgelegt wurden. Vollends Gegenstand des Spottes wurde er allerdings, als er vor keinem geringerem Gremium als der Akademie der Wissenschaften zu Berlin des Langen und Breiten über seine Heilerfolge berichtete. Postwendend ließ ihn Goethe in der „Walpurgisnacht“ als „Proktophantasmist“ (Steißgeisterseher) in Erscheinung treten.

An besagter Stelle heißt es:

Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.
Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört!

Das wird von Mephisto wie folgt kommentiert:

Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert [sich Erleichterung verschafft]
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist kuriert.

Auch die Schlegels machten sich in der Zeitschrift „Athenäum“ über Nicolai lustig: „Verschwindet etwas, wenn man sich sechs Blutigel an den After setzen lässt, so ist es eine bloße Erscheinung; bleibt es, so ist es eine Realität“. Die Zeitgenossen wussten, wer damit gemeint war.

Weiter heißt es im „Faust“:

Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch?
Hat man euch lange nicht bewiesen:
Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füßen?
Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich!

Der Proktophantasmist vermag indes nur zu langweilen, wie „Die Schöne“ ihm vorwirft:

Die Schöne:

So hört doch auf, uns hier zu ennuyieren!

Und es heißt weiter:

Ich sag’s euch Geistern ins Gesicht:
Den Geistesdespotismus leid ich nicht;
Mein Geist kann ihn nicht exerzieren.

Heut, seh ich, will mir nichts gelingen;
Doch eine Reise nehm ich immer mit
Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt
Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.

Nicolai findet sich auch in der Person des Mittlers in Goethes „Wahlverwandtschaften“ wieder. Er zeigt sich zwar moralisch überlegen, aber genau dies stiftet Unheil. So erweist sich Nicolai für viele Germanisten-Generationen als Prügelknabe. Erst in jüngerer Zeit wird er rehabilitiert. Er bewirkt Anregungen zu ästhetischen Debatten. Davon zeugt zum Beispiel seine „Abhandlung zum Trauerspiele“.

Sein Versuch, den Dingen eine sozial-integrative Wendung zu geben, wurde von Vielen für richtig gehalten. Allerdings geriet er in den 90-er Jahren des 18. Jahrhunderts in die Defensive. Seine auf Wirkung zielende Funktion der Kunst stand der Autonomie-Auffassung des anderen Lagers gegenüber. Der Künstler sei unabhängig, hieß es dort, diese Position einer konkreten Kunst- und Lebensauffassung wurde mit großer Leidenschaftlichkeit verteidigt.

Es bleibt die Frage der Legitimität. Angriffe der Gegener auf die jeweilige Person, einschließlich Spiel mit derem Namen, gehörten damals zur Tradition, zur „Streitkultur“.

Dagegen formulierte Lessing eine „vernünftige Kritik“: „Jeder Tadel, jeder Spott, den der Kunstrichter mit dem kritisierten Buch in der Hand gut machen kann, ist dem Kunstrichter erlaubt.“ Es ging um die Frage, ob man den unliebsamen Gegner mit Hilfe von rhetorischen Mitteln – durch Spott und Tadel also – bekämpfen und kompromittieren dürfe. Sicherlich. Aber sobald der Kunstrichter mehr zu wissen glaube, als aus den Schriften des Autors ersichtlich, gerate dies zu persönlicher Beleidigung, Klatscherei und Anschwärzerei, und man erweise sich letztlich als bloßer Pasquillant.

 

Herbstausflug nach Dornburg und Merseburg

Unser Herbstausflug fand am 14. September statt. Per PKW und zwei Kleinbussen ging es zunächst nach Dornburg. Da wir uns ALLE – bis auf neue Mitglieder unserer Gesellschaften – schon längere Zeit kennen, waren Begrüßung und Wiedersehensfreude groß und herzlich.

Der Tag begann mit Führung und Besichtigung einiger Zimmer des Renaissance- und Rokokoschlosses nebst „Goethe-Gemächern“. Wir erlebten also wieder einmal Orte, in denen Goethe zeitweilig lebte und wirkte. Danach ging die Fahrt nach Merseburg. Hier schipperten wir mit dem MS Captain Fu auf der Saale Richtung Leuna und zurück. Abendessen gab es auf dem Schiff. Auch Musik gab es dazu – der Kapitän spielte für uns auf dem Schifferklavier bekannte Seemannslieder, und wir sangen mit.

Wir hatten wieder einmal – neben unserem schönen Sommerfest am Trusetaler Wasserfall zwei Wochen zuvor – einen erlebnisrechen Tag. Herzlichen Dank an unseren Vorstand!

Renate Dalgas

Goethe und Rousseau

Vortrag von Bernd Kemter, Gera, am 2. Oktober 2019

Jean-Jacques Rousseau (1712 – 78) bringt Gründe für einen freien Naturzustand der Menschen vor. In dieser ursprünglichen, natürlichen Ordnung folgt der Mensch ausschließlich seinem Gefühl. In diesem Zustand herrscht die Selbstliebe (amour de soi), aus der alle Gefühle entstehen, im übrigen auch das Mitleid. Allmählich erwachsen im Miteinander primitive gesellschaftliche Ordnungen, in denen der Mensch seine Freiheiten noch weitestgehend bewahren kann. Hier herrscht auch Gleichheit. In der weiteren Entwicklung bilden sich allerdings Kultur, Wissenschaft und Sprache, vor allem aber Eigentum heraus. Freiheit und natürliche Gleichheit lösen sich auf. Die ursprüngliche Selbstliebe verwandelt sich in Selbstsucht, Eigenliebe (amour propre). Arbeitsteilung und Privateigentum treiben den Menschen in Konkurrenzverhältnisse. Dies widerspiegelt sich zum Beispiel in der Rechtsprechung. Sie legt dem Schwachen Fesseln an und verleiht den Reichen ihre Macht. Kultur und Wissenschaft schwächen das natürliche Gefühl. Luxus verdirbt die Menschen. Rousseau stellt diesem Kulturpessimismus sein Freiheitsideal entgegen. Der Weg dorthin führt über die Erziehung, deren Prinzipien in seinem Buch „Emile“ niedergelegt sind. Demnach beschützt und belehrt der Lehrer seinen Zögling, lässt ihm Freiheiten, achtet darauf, dass das Kind durch eigene Erfahrungen lernt.
In seinem „Gesellschaftsvertrag“ – Contrat social – propagiert Rousseau kleine demokratische Gemeinwesen, in denen die Mitglieder einfach leben und nach Recht und Vermögen gleich sein sollen. Der Mensch unterstellt sich deren Gesetzen. In diesen Gemeinwillen geht zugleich sein eigener ein, so dass individuelle Freiheit und Gleichheit gewahrt bleiben.
Goethes Interesse an Rousseau lässt sich zunächst an dessen Hinwendung zur Natur belegen. Einen „Kollegen“ botanischer Studien sieht Goethe in dem Schweizer allerdings nicht, anerkennt jedoch dessen Naturschwärmerei. So schreibt Goethe: „In Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das fasslichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten solle.“ Ein Lob, das lediglich der Didaktik Rousseauschen Vortrags gilt. Ernster und ein wenig respektvoller nimmt Goethe den Genfer Naturliebhaber allerdings in einem weiteren Zitat: „Wer wollte nicht dem im höchsten Sinne verehrten Rousseau auf seinen einsamen Wanderungen folgen, wo er, mit dem Menschengeschlecht verfeindet, seine Aufmerksamkeit der Pflanzen- und Blumenwelt zuwendet und in echter gradsinniger Geisteskraft sich mit den stillreizenden Naturkindern vertraut macht.“
Wenn man bedenkt, welch unerhörtes Phänomen Rousseaus Kulturpessimismus im Rahmen der europäischen Aufklärung darstellt, ist Goethes Wortkargheit in der Würdigung von Rousseaus Einfluss auf das eigene Schaffen nahezu befremdend.
Die Gründe für diesen Mangel an ausdrücklichen und eindeutigen Stellungnahmen von seiten Goethes, wenn man von seinen botanischen Interessen absieht, mögen einfach mit jenem Rezeptionsvorgang erklärt werden, den der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom als Einflussangst beschrieben hat.
Es liegt aber auch die Vermutung nahe, so macht die venezianische Germanistin Stefania Sbarra geltend, Goethe habe nach 1789 im Autor des Contrat social den Vorläufer der Französischen Revolution samt ihren Gräueltaten erblickt und konsequenterweise von ihm Abstand genommen. Zu dieser Annahme veranlasst folgender Passus aus „Dichtung und Wahrheit“:
„Diderot war nahe genug mit uns verwandt; […]. Seine Naturkinder […] behagten uns gar sehr, seine wackeren Wilddiebe und Schleichhändler entzückten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnass nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheueren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien.“ Ein gewisses Verständnis für die ungeheuren weltpolitischen Ereignisse, aber auch der Ablehnung der sich anbahnenden jakobinischen Schreckensherrschaft finden wir dezidiert in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Dies nebenbei.
Weder in der bis zum Überdruss wiederholten Formel „Zurück zur Natur“, die übrigens in keinem Werk Rousseaus zu finden ist, noch in einer Aufforderung zur Revolte hat Goethe gefunden, was er in der Auseinandersetzung mit seinem Selbst brauchte, sondern in Rousseaus Kritik der Eigenliebe, die den Schwerpunkt all seiner Werke bildet. Goethes Rousseau-Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihn mit einer Psychologie des modernen Subjekts vertraut macht, die ihm zum Verständnis des eigenen Künstlertums in Bezug auf die Eigenliebe-Pathologie des zivilisierten Menschen verhilft. Nur vor dem Hintergrund dieser Kritik am zivilisierten Menschen gewinnen sämtliche Naturparolen genaue Konturen und jene Einmaligkeit, die Rousseau von anderen, bereits vor ihm hervorgetretenen Sängern des ländlichen Lebens unterscheidet. Nicht allein in der Verherrlichung idyllischer Naturszenen einer weit hinter uns liegenden Zeit ist Rousseaus Einfluss auf Goethe zu suchen. Wenn dem anders wäre, darauf macht Sbarra zu Recht geltend, hätte schon Hallers Gedicht „Die Alpen“, von Goethe geschätzt, genug für den Gegensatz Land-Stadt und Tugend-Laster geleistet und in der Schweiz die idyllische, aber konkrete Alternative zur Zivilisation zugänglich gemacht.
Der Zusammenhang von Eigenliebe und Zivilisation prägt die aufgeklärte Messe- und Universitätsstadt Leipzig, wie sie Goethe 1765 bis 1768 erlebt. Hier beobachtet er mit Erstaunen, wie sich die Menschen dem sinnlichen Genuss verschrieben haben. In Klein-Paris orientieren sich nicht wenige Studenten am Ideal der Galanterie, und die jungen Frauen sind allzusehr damit beschäftigt zu verführen und zu gefallen. Alle wollen ihre soziale Lage verbessern.
Ehrgeiz, Aufstiegsträume, Unzufriedenheit mit der Lage, in die man hineingeboren ist: So stellt sich auch Rousseau das Profil des stets unruhigen modernen Menschen vor, wenn er als Gegenbild dazu seinen homme naturel entwirft, der sich gelassen mit seiner Situation zufrieden gibt.
Dagegen erscheint Goethe als junger begabter Dichter, seiner Eigenliebe verfallen. Denn wenngleich Goethes Leben als Schriftsteller die eindeutigste Stellungnahme gegen Rousseaus Ächtung der Kunst darstellt, so ist nicht auszuschließen, dass er sich hat schmerzlich auseinandersetzen müssen mit solch einer Aussage wie: „Jeder Mensch, der mit angenehmen Talenten seine Zeit verbringt, will gefallen, bewundert werden, und er will mehr bewundert werden als ein anderer. Der öffentliche Beifall gehört ihm allein; ich würde sagen, dass er alles tut, um ihn zu erhalten. Wenn er nicht noch mehr täte, um seine Konkurrenten um diesen Beifall zu bringen.“
Diese Sucht des Künstlers nach öffentlichem Beifall, wird sie nicht am vernehmlichsten im „Torquato Tasso“? Der Schmerz und die Ohnmacht des Dichters gegenüber der Herabsetzung und der Spötteleien des dünkelhaften Hof- und Weltmannes Antonio sind für uns zutiefst nachfühlbar. Doch auch in weiteren Werken scheint die Eigenliebe als Produkt der Kultur auf.
Im Monodram „Pygmalion“ feiert Rousseau die Herstellung der idealen Elfenbein-Frauenskulptur durch den trunkenen Bildhauer als natürlichen Akt. Goethe hingegen sieht in seinem gleichnamigen Jugendgedicht die Statue als Kunst und schöpferische Kulturtat, warnt jedoch zugleich davor, sie zu überfordern, indem sie in die Natürlichkeit übergehen soll. Worum geht es bei diesem, auf Ovid zurückgehenden Sujet?
Der zypriotische Bildhauer Pygmalion schafft eine Statue, die er als sein Meisterwerk ansieht. Wahnsinn und Imaginationskraft des Künstlers standen hierbei Pate. Er verliebt sich in die Statue, behandelt sie als Frau von Fleisch und Blut. Aphrodite erbarmt sich seiner und lässt die Statue lebendig werden. Goethe kritisiert den ursprünglichen Pygmalionmythos und auch die Rezeption Rousseaus, wie Leonie Nießeler, Uni Augsburg, in ihrem Aufsatz klar herausarbeitet. Goethe stellt die Kunst über die Natur und betrachtet Pygmalion als „Pfuscher“ und „Dilettant“, wenn er sich einbildet, das vollkommene Kunstwerk müsse lebendig werden und somit in die Natur zurückfallen. Deutlich unterstreicht er diese Ablehnung eines Pygmalionmythos als reines erotisches Abenteuer in seinem eigenen Gedicht Pygmalion, das im Leipziger Liederbuch für Anette veröffentlicht wurde. Hier bestraft er Pygmalion für seine Abwendung von den realen Frauen und sein Begehren einer Statue damit, dass er ihn eine Prostituierte heiraten lässt.
Nießeler stellt nun Rousseaus Kunstverständnis demgegenüber, es sei charakterisiert durch ein Zusammenwirken von Kunst und Natur, und nur durch die Verlebendigung der in der Form vollkommenen Statue könne die „Ordnung der Natur“ wieder hergestellt werden. Er stellt die schöne Seele in den Vordergrund, und nur indem er die künstlerische Vollkommenheit des Körpers zurückstellt, kann die Seele erwachen und im Sinne der Aufklärung spricht die Statue zuerst das Wort „Moi“ und erkennt sich damit selbst. Soweit Leonie Nießeler zum ausschließenden Gegensatz beider Kunstkonzeptionen.
Rousseau beklagt die Sucht, sich auszuzeichnen, als Übel der modernen Konkurrenzgesellschaft. Goethe widerstrebt dies, er bekennt sich als Schriftsteller zur modernen Dimension der Eigenliebe. Von jetzt an ist er von der Sucht angesteckt, ein erfolgreicher Künstler zu werden. Die Absage an pietistische Werte, die nach seiner Krankheit nach dem Leipziger Aufenthalt kurzzeitig maßgeblich wurden, nimmt Clavigos Ehrgeiz vorweg. Sie bedeutet die Identifizierung mit dem modernen, unruhigen, ja zerrissenen Subjekt jener von Eigenliebe geprägten Welt, die Rousseau zur harten Polemik gegen die Fortschrittsgesellschaft veranlasst hatte. Die vorhin bereits zitierte Stefania Sbarra resümiert: Damit verschiebt sich also der Schauplatz des Zusammenpralls zwischen den von Rousseau polemisch vertretenen antimodernen Werten und der ichbezogenen Eigenliebe des modernen Menschen in Goethes Inneres.
Auch im Lustspiel „Die Mitschuldigen“ inszeniert Goethe eine bürgerliche Welt von genusssüchtigen Menschen, die sich im modernen Leipzig um des plaisirs willen gegenseitig betrügen. Die psychische Lage des modernen Subjekts findet hier ihren Ausdruck. Es verabschiedet sich in einem Wirbel von Vergnügungen und Zerstreuungen von allen herkömmlichen moralischen Werten, um sich ausschließlich der rastlosen Suche nach dem flüchtigen Genuss hinzugeben.
Auch ein weiteres Goethe‘schen Werk offenbart rousseausche Einflüsse: „Die Leiden des jungen Werther“. Das Kultbuch aller Liebenden und Liebesuchenden schlechthin aber ist und bleibt dieser monologischer Briefroman. Werther, ein gebildeter junger Mann, erschießt sich aus unerwiderter Liebe zu einer verheirateten Frau. Heute wie zu seinem Erscheinungsjahr 1775 bewegt dieser Roman die Gemüter, identifizieren sich junge Menschen mit dem Titel,,helden“. Goethe holte sich die Inspiration zu diesem Werk zum Teil aus seinem privaten Umfeld, zum Teil ließ er sich aber auch von Philosophen, Schriftstellern und Gelehrten der damaligen Zeit beeinflussen. Es ist bekannt, dass er vor der Niederschrift der „Leiden des jungen Werthers“ das Gedankengut des Schweizer Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau eingehend studiert hatte. Kann man im Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nun den Einfluss Rousseaus feststellen und sind dessen Aussagen heute noch von Gültigkeit?
Die Autorin Carola Hoffmann geht der Frage nach den Bezügen des gegebenen Textausschnitts Rousseaus und Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nach: Jean-Jacques Rousseau befasst sich in seiner ausgezeichneten Preisschrift „Discours sur les sciences et les arts“ mit der Frage, ob der Fortschritt von Wissenschaft und Kunst zur Läuterung von Sitten und Moral beigetragen hat. Goethes „Werther“, ein klassischer Sturm-und-Drang-Roman, erzählt die Geschichte eines unglücklich verliebten, schnell zu brechenden jungen Mannes, der sich resignierend das Leben nimmt, wie bereits erwähnt. Auf den ersten Blick stellt der Laie zwischen diesen beiden Themen keinen konkreten Zusammenhang fest, bei näherer Betrachtung ist der Einfluss Rousseaus auf Goethes Roman allerdings unverkennbar. Werthers einzige Leidenschaft, vor der Bekanntschaft Lottes, ist die Natur. Die Briefe an seinen vertrauten Freund Wilhelm sind voller Liebesbekundungen an die Umgebung seines neuen Wohnsitzes Wahlheim, er spricht von „Verzückung, Gleichnissen und Deklamationen“ (10. Mai 1771; 27. Mai 1771). Dort hat er die Zeit und Muse, sich der Kunst und Literatur zu widmen. Tagein, tagaus beobachtet er voller Wonne die Naturerscheinungen, die er sogleich auf Papier festhält. Werther meint, das Studium der Natur und seiner Lieblingslektüre, ein Band Homer, allein seien Beweis eines fortgeschrittenen Bildungsgrades (13. Mai 1771).
Er will sich in der Natur selbst finden, die Philosophie Rousseaus bestärkt ihn darin. Werther befindet die Natur zum besten und geeignetsten Lehrmeister eines Künstlers. Zwar lassen Regeln und Gesellschaftsformen Menschen keineswegs zu Bösewichten oder Unsympathen verkommen, ein individueller Charakter kann sich aber mit ihnen nicht entwickeln. Dieser Brief lässt bei Werther pietistische Ansätze erkennen, denn mit den lebendigen Glaubenserfahrungen, die er in der Natur sammelt und seiner enthusiastischen Frömmigkeit, vertritt er diese Bewegung. Und nicht nur dies. Hoffmann weist zu vollem Recht auf einen weiteren Umstand hin. So habe Rousseau in seinem „Discours sur les sciences et les arts“ die Vorstellung einer Frühzeit der menschlichen Gesellschaft, eines Naturzustands entwickelt, der noch nicht durch Arbeitsteilung, soziale Differenzierung und Privateigentum sowie die mit diesen Phänomenen einhergehende Entfremdung bestimmt ist.
Werther beschreibt in seinen Briefen auch einen ständigen Umbruch, bedingt durch seine Wanderschaften. Diese Wanderschaften bedeuten für ihn eine grenzenlose Freiheit, ohne von Nichtigkeiten eingeschränkt zu sein. Es scheint, als würde er erst in der Natur zu seinem wirklichen Ego finden, seine originären Wesenszüge entdecken. Es könnte genau jener „Naturzustand“ sein, den Rousseau meint. Außerdem schreibt der Schweizer, ganz im negativen Sinne, dass erst Kunst und Literatur aus Menschen zivilisierte Lebewesen machen. Das deckt sich mit Goethes „Werther“, denn die ursprüngliche Natur hat keine Zivilisation vorgesehen und kennt keine Verhaltensregeln.
Werther sehnt sich sehr nach einer Gesellschaft, die die inneren Werte und nicht Adelstitel und Reichtum als Messlatte für Sympathien sieht. Er befindet das Ständesystem zwar für notwendig, sieht es aber auch als Hindernis für persönliche Beziehungen (24. Dezember 1771). Dies merkt man besonders deutlich, als Werther eine demütigende Zurücksetzung bei einer adeligen Gesellschaft hinnehmen muss, die ihn tief berührt (15. März 1772). Sein befreundeter Vorgesetzter zeigt sein wahres Gesicht, als Werther bei einer Adelsveranstaltung von den Anwesenden nicht geduldet wird und bittet ihn, die Festlichkeit, ohne Rücksicht auf die persönliche Bindung beider, zu verlassen. Sogar seine Bekannte, Fräulein von B., kann mit diesem Fehlverhalten Werthers nicht leben und soll den Kontakt abbrechen (16. März 1772). Werther kehrt dem Ort daraufhin enttäuscht von der unehrlichen und vorurteilsbeladenen Gesellschaft den Rücken (24. März 1772). Um nicht mit dieser Erniedrigung leben zu müssen, reist er mit einem Grafen, der jedoch sehr gefühlskalt ist. Dies ist für ihn Grund genug, auch den Grafen bald zu verlassen und nach Wahlheim zurückzukehren (18. Juni 1772). Seine Ablehnung aller gesellschaftlichen Normen lässt ihn zum Außenseiter werden. Goethe kritisiert durch Werther auch die Bürger, die sich nicht trauen, Freiheiten einzufordern, sondern sich Adeligen genügsam unterordnen.
Weiterhin kritisiert der Titel,,held“ Werther die stumpfsinnige Gesellschaft, deren Hauptziel die Bedürfnisbefriedigung und Leben nach vorgegebenen Regeln ist (22. Mai 1771). Nur die Kinder, von denen er im Roman einige liebgewinnt, leben nach Werthers Vorstellung noch richtig: unbeschwert und uneingeengt. Ihnen sind Literatur, Kunst und Statussymbole meist noch fremd, sie leben nach ihrem inneren Trieb. Man kann also annehmen, dass der Charakter bei Kindern noch unverfälscht und rein ist. Kinder gefallen vor allem durch ihre Unbefangenheit und Ungezwungenheit. Sie faszinieren Werther vielleicht genau deswegen, weil sie „ungeschliffene Diamanten“ sind, die erst im Laufe der Jahre von Lehrern, Eltern und weiteren Bezugspersonen bearbeitet werden. Die ursprüngliche Schönheit einer Person zeigt sich also in der Kindheit, in der Unterschiede im Verhalten, genau wie Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emile“ festgestellt hat, Unterschiede im Charakter sind. Bei der ersten Begegnung mit Lotte verliebt sich Werther auf den ersten Blick in sie, er sieht dieses wunderbare Wesen im Gegensatz zu verbitterten Jungfern und herrschsüchtigen Amtmännern. Lotte, selbst noch ein sehr junges Mädchen, lebt wie es ihr gerade zumute ist. Obwohl ihr geraten wird, Werther „um der Leute willen“ nicht mehr so oft zu empfangen, lädt sie ihn immer und immer wieder zu sich ein, da sie seine Gesellschaft als ein sehr hohes Gut sieht. Werther nimmt für seine Liebe zu Lotte alles in Kauf, ihm ist das Gerede über die außergewöhnliche „Freundschaft“ egal. Ihr vom ersten Moment an verfallen, schätzt er an Lotte gerade deren liebevolle Erziehung der Kinder. Obwohl sie mit Albert verlobt ist, ihn später sogar heiratet, kann sie nicht von Werther lassen. Albert ist im Buch ein klassischer Vertreter der Aufklärung, er verhält sich zwar höflich, ist aber auch gefühlskalt. Im Gegensatz dazu steht der heißblütig liebende Werther, der einen typischen Sturm-und-Drang-Helden verkörpert. Die Kinder und Lotte sind bei Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ein Mittel, die Botschaft Rousseaus zu verbreiten, dem Leser die Begeisterung Werthers für ein Leben ohne aufgezwungene Lasten wie Sitten und Benimmregeln nahezubringen. Im Verlauf des Buches heiratet Lotte Albert. Obwohl Werther anfangs glaubt, Lotte hege für ihn Gefühle (13. Juli 1771), scheint dies durch die Heirat widerlegt zu werden. Nach Meinung Carola Hoffmanns vermählt sich Lotte aber nur, um den Sitten zu entsprechen und nicht verpönt zu werden. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, die Verlobung mit Albert zu lösen. Dieser Punkt deckt sich mit Rousseaus Aussage, “immerzu folgt man der Konvention, niemals dem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr, sich so zu zeigen, wie man ist; und unter diesem ständigen Zwang werden die Menschen dieser ‚Gesellschaft‘ genannten Herde in gleichen Situationen alle das gleiche tun, wenn nicht stärkere Beweggründe sie davon abhalten“. Lotte, zuerst noch ungezwungen, wandelt sich zu einem „Herdentier“, das sich der Hierarchie der damaligen Zeit beugt und halbherzig die Ehe mit Albert eingeht. Insgeheim hofft sie, dadurch die Gefühle zu Werther zu vergessen, was ihr aber nicht gelingt. Der junge Werther kann die Zuneigung Lottes nie genau einschätzen, da sie sich zu keinem Zeitpunkt eindeutig zu ihren Gefühlen äußert, genau diese Ungewissheit treibt ihn letztendlich in den Tod. Bei Rousseau heißt es: „Um seinen Freund kennenzulernen, wird man also die bedeutsamen Gelegenheiten abwarten müssen, das heißt abwarten, bis es dafür zu spät ist, denn gerade dieser Gelegenheit wegen wäre es wichtig gewesen, ihn zu kennen.“ Diese Passage ist auf Werthers Selbstmord zu beziehen. Lotte weiß, was er mit der Pistole, die ein Knabe aus ihren Händen für Werther entgegennimmt, plant; trotzdem wagt sie es nicht, einzuschreiten oder ihn zu bewegen, die Tat zu unterlassen. Sie spürt, nicht zuletzt aufgrund der tiefen Freundschaft, die sie mit Werther verbindet, dass sich dieser, zum Ende hin schwer depressiv, sich mit der Pistole das Leben nehmen wird. Lotte hätte in der „bedeutsamen Gelegenheit“ des geplanten Selbstmordes zu Werther eilen und ihm Lebensmut zusprechen können, aber die Feigheit, ihrem Ehemann die Ahnung über das schreckliche Vorhaben Werthers vorzuenthalten, lässt diesen seinen Plan durchführen. Lotte wäre für Werther bestimmt ein „stärkerer Beweggrund“ gewesen seine Tat zu unterlassen, so verehrt er sogar noch sein eigenes Mordinstrument, weil Lotte es berührt hat. Seinen Selbstmord befindet Werther als eine große Tat, da sie den bürgerlichen Konventionen ganz und gar widerspricht. Dass es aber auch eine Flucht vor sich selbst und vor seinen Kritikern ist, übersieht er in seinen Depressionen wohl ganz.
Weiterhin stellt Carola Hoffmann die Frage nach der Gültigkeit der Kritik Rousseaus und versucht, selbige zu beantworten: Ihrer Meinung nach ist die Preisschrift Rousseaus heute aktueller denn je, Wissenschaft, Kunst, Literatur und die neuen Medien sind die Werkzeuge der Menschheit, mit deren Hilfe sie sich verwirklichen und informieren. Keine Regierung und keine Gesetze können Menschen helfen, zu sich selbst zu finden. Genau bei diesem Prozess unterstützen aber diese vier Informationsquellen; sie bilden im Stillen Charaktere aus, können diese aber auch verfälschen, wenn Geschriebenes ohne Überlegungen übernommen wird. Genau dies ist aber die Problematik: Woher soll man wissen, was richtig und was falsch ist? Tagtäglich berieseln uns die Medien mit neuen Erkenntnissen der Forschung, aber auch mit Gewalttaten und Kriegsberichten. Viele Menschen können diese Informationen aber nicht verarbeiten und übernehmen die Meinungen, die ihnen vorgetragen werden. Oft hört man von einer Verrohung der Jugend und deren Sitten. Maßgeblich für das Verhalten sind aber deren Erzieher, die ihnen auf ihrem Weg zum Erwachsensein entweder keine Hilfe leisten, schlechte Vorbilder sind oder die Erziehung dem Fernsehen oder Computer überlassen. Von früh auf wird Kindern eingetrichtert, sie müssen sich selbst in dieser gefühlskalten Welt in den Mittelpunkt stellen, um erfolgreich zu werden. Sie wachsen mit der typischen Ellenbogengesellschaft auf und sehen die Nachteile dieser übertriebenen Selbstverwirklichung nicht. Ein weiterer aktueller Punkt sind die Regeln der Gesellschaft. In Knigge-Kursen und ähnlichen Veranstaltungen kann das weitläufige Publikum vorgegebene Benimmregeln mühelos erlernen und damit seiner Umgebung dieses Verhalten vorführen. Man kann diese Menschen dann auf den ersten Blick nicht mehr voneinander unterscheiden: Wer ist von Natur aus höflich und freundlich, und wer hat es sich nur antrainiert? Die Gesellschaft fordert heute jeden einzelnen, sein Schema, in das er durch Schulabschluss und Freunde gepresst wird, bis an sein Lebensende zu erfüllen. Sein privater Charakter oder seine ursächlichen Interessen bleiben dabei auf der Strecke; was zählt ist der Schein. Wahre Freunde gibt es in der heutigen Welt wahrlich nur noch wenige, denn sie zu durchschauen und zu ihnen Vertrauen zu finden, bedarf eines langen Zeitraumes. Wenn Freundschaften eingegangen werden, dann meist im Kindesalter, wo Umgangsformen und Wissenschaft nur eine nichtige Rolle spielen. Die Kinder handeln noch mit dem Herzen, ohne ihren Verstand allzusehr zu benutzen. Vielleicht halten gerade diese Freundschaften ein ganzes Leben, weil sie auf einer soliden Basis, der Ehrlichkeit, aufgebaut sind. In oberflächlichen Freundschaften kommt die Aufgesetztheit meist in entscheidenden Situationen zum Vorschein, denn gerade in Notfällen zeigen diese untreuen Weggefährten ihr wahres Ich und lassen einen im Stich. Enttäuschungen sind die Folge.
In dieser Einschätzung werden die Enttäuschungen der jungen Autorin Hoffmann deutlich, die ihre Erfahrungen offensichtlich aus ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit schöpft und sie mit den späteren einer schon Erwachsenen vergleicht. Rousseau habe mit seiner Preisschrift die Problematik schon der damaligen Gesellschaft richtig erkannt. Später habe diese Problematik immer mehr an Gültigkeit gewonnen und, so stellt die Autorin fest, dieser Prozess wird im heutigen Zeitalter der totalen Industrialisierung, Automatisierung (und Digitalisierung) tagtäglich aktueller werden. Auf der Suche nach immer aufregenderen Abenteuern und exotischeren Veranstaltungen werden die zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr zweitrangig. Sie werden meist häufig nur noch per Email oder Telefon gepflegt, der körperlich nahe Kontakt gerät zur Ausnahme. Bild- und Mobiltelefone tun ihr Übriges, um den Menschen das hohe Gut der Freundschaft oder gar Liebe zu entfremden.
Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ kann man getrost einen Klassiker der Literaturgeschichte nennen. Sein Thema, die Liebe, wird immer aktuell und hoffentlich nicht vergänglich sein. Obwohl die Naturbetrachtungen Werthers sehr langwierig und mitunter schleppend sind, ist das Buch eine interessante Lektüre für Jung und Alt, und die Naturbetrachtungen des jungen Werther öffnen die Augen für die Dinge des Alltags, die nur noch selten wahrgenommen werden. Es ist ein Appell an Leidenschaft, Natur, an die Liebe und an das Gefühl, um diese vier Dinge wieder über Anstand und Materialismus zu stellen.
Natürlich übertreibt der Titelheld Werther im Roman mit seinem kläglichen Selbstmord, denn durch seine Jugend hätte er bestimmt in seinem Leben noch mehr Frauen kennengelernt, deren Wesen ebenso liebenswürdig gewesen wäre wie Lotte es war. Auch der Bezug des Buches zu der ersten Preisschrift des Schweizer Philosophen, Schriftstellers und Musikers Jean-Jacques Rousseau ist ein interessanter Aspekt des Romans. Das Buch gewinnt dadurch an Aussage, es scheint fast, als wolle Goethe damit die Botschaft Rousseaus seinem Publikum verkünden und damit zu „Sturm und Drang“ auffordern, um das Leben ohne die starren Regeln der Gesellschaft zügelloser und ausgelassener zu genießen. Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ rebelliert mit einer großen Portion Ironie gegen Adelsstand und Falschheit, das tragische Ende des Werther lässt aber auch einige Fragen offen.
Ein weiteres, sehr erhellendes Thema wäre ein Vergleich zwischen dem „Werther“ und Rousseaus „Neuer Heloise“, auf das hier aus Zeitgründen nicht eingegangen werden kann.

Sommerfest am Trusetaler Wasserfall

Ausflug am 31. August 2019

Unser Sommerfest um Goethes Geburtstag führte uns, Erfurter und Geraer Goethefreunde, zum Trusetaler Wasserfall. Wie bei jedem Ausflug erzählte uns Herr Kemter Wissenswertes schon während der Busfahrt über unser Ausflugsziel. Dort hörten wir schon nach wenigen Schritten starkes Wasserrauschen. Der künstliche Wasserfall wurde in seiner jetzigen Form Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen – eine Sehenswürdigkeit für uns ALLE!

Unseren Durst und Hunger stillten wir in der nahegelegenen Gastwirtschaft. Eine Überraschung war der Auftritt der Schauspielerin Anne Seibt, die mit dargestellten Szenen aus der „Legende vom Brautbett“ eine gelungene Abwechslung für uns war. Danach gingen wir nochmals zum Wasserfall, um weiteres Geschichtsträchtiges zu erfahren. Nach dem Abendessen sangen wir Lieder, so vom Rennsteig und überhaupt vom Thüringer Wald. Es war ein wunderschöner Ausflugstag mit viel Natur, frischer Luft und Wissenswertem über unser schönes Thüringen.

Renate Dalgas

Begegnung mit der Antike: Voß, Wieland, Klopstock, Goethe

Vortrag von Prof. Hans-Joachim Kertscher, Halle, am 4. September 2019

Kertscher ging zunächst auf Briefe des Dichters Johann Ludwig Wilhelm Gleim (1719 – 1803) ein. Sie behandelten auch den Umgang mit den Versmaßen, zum Beispiel Hexameter, Jambus, Daktylus. Im Griechischen stellen sie sich relativ einfach dar, im Deutschen wird es schwierig. Man muss Anpassungen versuchen. Über das Wie entstand Streit. Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) wurde zur Beschäftigung mit der Antike durch Glucks Oper „Alceste“ angeregt. Er ließ sie in Weimar aufführen. In seinem „Teutschen Merkur“ behandelte er die Figurengestaltung in der antiken Tragödie des Euripides. Gegen diese Antiketümelei wandte sich der Spott Goethes in seiner Satire „Götter, Helden und Wieland“. Selbiger meinte nur lakonisch: „Man muss die Herren ein wenig toben lassen.“ Für seinen „Merkur“ kündigte er übrigens höchst nachsichtig und keineswegs übelwollend Goethes Persiflage zur Veröffentlichung an. Goethe schrieb daraufhin einen Versöhnungsbrief. In Wielands Lehrgedicht „Die Natur der Dinge“ ging es auch um das Verhältnis der Versmaße Alexandriner (sechshebige Jambenzeile, die nach der dritten Hebung, also der sechsten Silbe, eine Zäsur hat – Einschnitt, Sprechpause – und mit einem Auftakt beginnt) und Hexameter. Goethe bevorzugte den Hexameter, wovon seine Werke „Hermann und Dorothea“ und „Reineke Fuchs“ zeugen. Ein Hexameter besteht aus sechs Daktylen, deren letzter um eine Silbe verkürzt ist; der Vers wird durch eine Zäsur, die an verschiedenen Stellen der Versmitte eintreten kann, gegliedert. Daktylus: ein aus einem langen bzw. betonten und zwei kurzen bzw. unbetonten Teilen bestehender Versfuß. Goethe ging es um einen direkten Zugang zur Antike, befreit von der Patina vergangener Jahrhunderte.
Auch Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) übte sich auf diesem Gebiet. Er begann mit seinen Übersetzungsarbeiten aus dem Griechischen mit Gedichten für den Göttinger „Musenalmanach“. Er beschäftigte sich mit den antiken Versmaßen und deren Übertragung ins Deutsche. So übertrug er den 14. Gesang der „Odyssee“, schickte den Text zu Wieland zum Druck im „Merkur“. Dies bedeutete auch eine Abkehr von Klopstock, mit dem ein Streit entbrannte, denn es gab unterschiedliche Positionen zu den Versmaßen und zur Möglichkeit von Übersetzungen. Friedrich Gottlieb Klopstock (1733 – 1813) favorisierte „geschmeidige Abfassungen“. Voß hingegen wollte die deutsche Sprache in ihrer Neufassung dem Griechischen anpassen. Dagegen meinte Klopstock, die deutsche Sprache sei schon so ausgereift, dass Eingriffe nicht nötig seien. Beide kündigten sich ihre Freundschaft auf.
Voß schwärmte von den Hexametern in der „Ilias“ gegenüber Wieland. Immer wieder bemühte er sich, der Lebendigkeit der griechischen Sprache im Deutschen so nahe wie möglich zu kommen. „Die erste Pflicht sei Genauigkeit“. Auch heute noch sind Voß‘ Übertragungen gültig.
Im Juni 1794 gab es in Weimar ein großes Dichtertreffen, an dem auch Voß teilnahm. Wieland bemühte sich darum, Voß zu vermitteln, wonach Goethe bei all seiner Steifheit doch ein guter Gesprächspartner sei. Voß hatte nämlich seine Vorurteile: Goethe sei sehr steif und hochmütig. Doch er ließ sich überzeugen: „So werde ich den Kauz wohl kennenlernen.“ Es gab zwischen ihnen ein längeres Gespräch. Anwesend waren Heinrich Christian Boie (1744 – 1806) und Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Schiller fehlte, zeigte sich aber von Voß‘ Übersetzung der „Ilias“ beeindruckt. Voß las aus der „Odyssee“. Goethe äußerte sein Wohlwollen, meinte aber, der Text sei mehr fürs Ohr als für das Auge geeignet. Voß legte seine anfänglichen Vorurteile über Goethe ab, zeigte sich merkwürdigerweise letztendlich doch enttäuscht: „Meinen Homer hat er nicht gut aufgenommen.“ Andererseits und immerhin: „Wieland las mit mir einige Hexameter.“
Für Wieland war bei der Verdeutschung stets der Geist, der aus dem Text sprach, wichtig. Voß suchte nach Wielands Meinung den Geist zu sehr und akribisch in der Form, er tue damit dem deutschen Geschmack Gewalt an. Damit offenbarte Wieland ein recht ambivalentes Verhältnis zu Voß‘ Bemühen. Den Geist müsse man erfassen, weniger die Sprache. Trotz allem zeigten ihm (Voß) die großen Weimarischen Geister doch ihr Wohlwollen. So trug Goethe während seiner „Freitagsgespräche“ einige Verse aus der „Ilias“ vor: offenbarte rühmliches Anerkennen des Übersetzers.
Voß wandte sich dann allmählich vom Hexameter ab, darüber zeigte sich Goethe erstaunt, er hätte gern noch von ihm gelernt. So wurden Voß, aber auch Wieland in den „Xenien“ Goethes und Schillers nicht verspottet wie andere Dichter. Goethe zollte den Gedichten von Voß in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“ höchstes Lob, er habe durch seine Übersetzungen der deutschen Sprache zu wahren Wohllauten verholfen. Allerdings ärgert sich Goethe, dass Voß nach Heidelberg ging, Goethe hätte ihn gern für seine eigene Tätigkeit vereinnahmt. Versöhnlich äußerte er sich zuletzt während eines Spaziergangs in Jena. Er zeigte Eckermann ein Haus: „Hier hat Voß gewohnt.“ Es ist heute nicht mehr vorhanden.
Wieland löste sich von schwärmerischen religiösen Attitüden, er arbeitete nun an seinem „Agathon“ und an „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“. Klopstock äußerte hingegen im Werk „Von der heiligen Poesie“, dass die Poesie vor den Richterstuhl der Religion gestellt werden müsse, was ja in seinem „Messias“ offensichtlich der Fall war. Dies war sein Credo. Von solchen Vorstellungen hatte sich Wieland verabschiedet. Von daher kam Kritik am ironisch-besonnenen, aber auch frivolen Stil Wielands von den Dichtern des „Göttinger Hains“ (Uz, Bürger, Hölty, Voß). Die Hain-Dichter schwärmten für Klopstock. Während einer Geburtstagsfeier für Klopstock verbrannten sie einige Werke Wielands und sein Bildnis. Diesen Vorgang schildert Voß. Hierzu muss man bemerken, dass sowohl Klopstock als auch Wieland zur damaligen Zeit im Zenit ihres Ruhmes standen. Beide waren vom Pietismus beeinflusst, ohne in religiöse Schwärmerei zu geraten. So hatten beide auch Beziehungen zu Halle, insbesonders zu einem dortigen Verleger. Dieser nutzte jede Gelegenheit, um Klopstock und Wieland gegeneinander auszuspielen.
Ein Weiteres trat hinzu. Deutschlands „Literaturpapst“ Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) setzte sich stark für den Versmaß des Alexandriners ein. Dieser sechshebige Jambus sei die moderne Versform. Dagegen opponierten die berühmten Schweizer Literaten Bodmer und Breitinger, aber auch Gleim und die jungen Dichter des „Göttinger Hains“. Sie entdeckten für sich den griechischen antiken Dichter Anakreon als Vorbild. Sie meinten: Zur Poesie gehöre eben die Vervollkommnung, die Perfektionabilität. Daher seien gewisse Muster notwendig. Die Authentizität der Übertragung vom Griechischen ins Deutsche sei somit erstrebenswert. Die wörtliche Wiedergabe wird abgelehnt, der moralisierenden Adaption der Vorzug gegeben.

Ausflug nach Nordhalben

Tagesausflug nach Norrdhalben am 11. Mai 2019

Dicke Regenwolken begleiteten uns bei diesem ansonsten wunderschönen Ausflug. Unsere gute Stimmung ließen wir uns dennoch nicht vermiesen.

Mit dem Bus der Firma Schröder starteten wir pünktlich am Geraer Busbahnhof Bus in Richtung Mauthaus im Rodachtal und trafen dort auf die Mitglieder des Literaturvereins Kulmbach. Friederike und Klaus Köster, Mitglieder des Vereins, hatten ein interessantes Programm vorbereitet.

Unser erstes Ziel war die Talsperre Ködeltal, die weite Teile Ober- und Mittelfrankens mit Trinkwasser versorgt. Sie ist die größte Trinkwassertalsperre Bayerns. Ein imposanter Blick bot sich von der Brücke hinunter auf die Talsperre und auf die sie umgebende Landschaft. Wie bestellt, ließ auch der Regen etwas nach und einige Ausflügler unternahmen einen Spaziergang auf einem Teil des Weges, der rund um die Talsperre verläuft.

Rechts und links der Straße zur Talsperre ist die Fläche naturbelassen. Viele bekannte Blumen und Kräuter sahen wir am Straßenrand. So u.a. Margeriten, Gänseblümchen, Wegerich, Frauenmantel, Veilchen, und auch wildwachsende Orchideen glaubte ich erkannt zu haben.

Von der Talsperre ging die Fahrt weiter zum Weiler Regberg. Klaus Köstner zeigte uns sein Vaterhaus und erzählte die zu Herzen gehende Geschichte seiner Kinder- und Jugendzeit.

Zur festgelegten Zeit brachte uns der Bus nach Nordhalben. Leider machte uns der Regen ein Strich durch die vorgesehene Stadtbesichtigung. Klaus Köstner führte uns in die Kirche, in der er uns mit der Geschichte des Ortes Nordhalben vertraut machte. So ließ er uns u.a. wissen, dass Nordhalben einstmals so um die 3000 Einwohner hatte, zurzeit sollen nur noch ungefähr 1700 Bürger in diesem Ort wohnen.

Nach den Ausführungen zur Stadtgeschichte besichtigten wir das Klöppel- und Historische Museum. Besonders die Frauen der Reisegruppe waren total begeistert von den geklöppelten Spitzen, von denen einzelne Schmuckstücke auch aus Silber- und Kupferdraht hergestellt worden waren. Natürlich kauften einige Frauen die geklöppelten Kunstwerke, ich auch.

Die Betrachtung der Ausstellungsgegenstände, sowie der schriftlich festgehaltene Rückblick in die Zeit verriet interessante Details, so u.a. auch, dass bereits im 16. Jahrhundert im Erzgebirge geklöppelt wurde. Die gesamte Entwicklungsgeschichte des Klöppelns ist sehr interessant. Der Besuch des Klöppelmuseums in Nordhalben und auch des Historischen Museums war ein beeindruckendes Erlebnis.

Im Gasthof „Harmonie“, in dem wir Kaffee tranken und Kuchen aßen, vermittelte das Wirtshaus Ehepaar eine angenehme Atmosphäre. Für jeden einen Kuchenteller mit vier sehr großen Kuchenstückchen sowie Kaffee oder Tee sponserten uns die Kulmbacher Literaturfreunde. Bei angeregten Gesprächen ging auch diese „Kaffeezeit“ viel zu schnell vorbei

In der Gaststätte „Mauthaus“ klang der ereignisreiche Tag aus. Hier aßen wir zu Abend a´ la carte. Nach dem Essen erfreute uns die Sängerin Silvia Wachter mit mehreren auch uns bekannten Liedern. Das Rennsteiglied stand auch in ihrem Repertoire. Soweit Text und Melodie der musikalischen Beiträge uns bekannt waren, sangen wir kräftig mit..

Leider neigte sich dieser Tag viel zu schnell seinem Ende zu. Gegen 19.00 Uhr traten wir die Heimreise an und erreichten ohne Stau unseren Heimatort Gera.

Dem Ehepaar Köstner und auch den anderen Organisatoren sage ich herzlichst „Danke“.

Vera Richter

Der Maler der Romantik – Philipp Otto Runge und Goethe

Vortrag von Prof. Ludolf von Mackensen, Kassel, am 7. Mai 2019

Goethe hatte einst ein Malerei-Preisausschreiben initiiert. Philipp Otto Runge beteiligte sich daran, er wählte als Thema „Achill und Skamandros“. Die Szene schildert den Kampf Achills mit dem Flussgott. Goethe zeigte sich jedoch durchaus nicht zufrieden, und Runge erhielt keinen Preis. Dennoch blieb ihm Goethe gewogen. Obwohl er diese Zeichnung ablehnte, förderte Goethe den jungen Maler, und es entwickelte sich sogar eine Freundschaft.
Runge sah in den Farben besondere Naturkräfte, und in seinen Farbauffassungen traf er sich durchaus mit Goethe, obwohl die romantische Sicht der klassizistischen ja zuwider lief. Runge gilt als Mitbegründer der Romantik, er suchte Spiritualität in der Natur. Dagegen besaß Goethe ein ambivalentes Verhältnis zur romantischen Richtung; einerseits sah er in ihr nichts Natürliches, er sah in ihr nur Bizarres, Fratzenhaftes und Karikaturhaftes. Andererseits unterstützte er Romantiker, zeigte sich durchaus tolerant. Runge entwarf auch große Sprachbilder, zeigte sich als ernst zu nehmender Dichter. Und er erwies sich als Christussucher. „Von Anfang ist sie gekommen“, heißt es in seinem „Gesang an die Sonne“, und weiter heißt es: „Oh, dass ich fliegen könne mit dir und preisgeben meine Seele“.
Runge fragt: Wie kann man jetzt noch etwas Klassisches machen, alte Kunst zurückrufen wollen? Er fühlt sich als Avantgardist. Dies schließt auch Kritik gegen den Klerus ein, ihm stellt er seine eigene religiöse Imagination entgegen. „Wir wollen sehen in jeder Blume den lebendigen Geist, erst so erlangt alles Bedeutung und Sprache.“
Runge stellt zehn Anforderungen an ein Kunstwerk, davon sind drei die wichtigsten: Ahnung von Gott, Kolorit, Farbton. Bei den Farben kommen Goethe und Runge einander nahe. Goethes Farbenlehre und Runges Farbkugel erscheinen im gleichen Jahr: 1810. Es kommt zum freundschaftlichen Gedankenaustausch. Goethes Farbenlehre erweist sich im Übrigen als umfangreicher als „Faust“ und „Wilhelm Meister“. Runge begründet gefällige und logische Farbmetriken. Er wollte seine Farbmodelle in drei Koordinaten räumlich geordnet und im Gesamtzusammenhang arrangiert sehen. Runge orientiert sich – wie Goethe – nicht an Newton und dessen Spektralanalyse. Immer wieder vertrat er auch das Geistige in der Kunst.
Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung „Der Morgen“ aus seinem Tages-Zyklus. Lichtgenien tanzen auf Blüten, im untere Teil musizieren Engelchen auf noch nicht geöffneten Blütenzweigen. Die Sonne erscheint. Arabesken umranken das Ganze. Bemerkenswert ist auch die Federzeichnung „Die Heimkehr der Söhne“, auch in diesem Beispiel wird Seelisches in Szene gesetzt.
Zwei Dinge haben nach Runge keine Farbe: das Licht und die Finsternis. Farben sind phänomenologischer Natur, und das menschliche Auge gehört dazu. Im Zusammenwirken entstehen erst die Farben. Licht ohne Luft (Finsternis) ist unsichtbar. Wenn die Luft das Licht streut, entsteht Blau. Wenn das Licht die Luft durchdringt, entsteht Rot. Die durchleuchtete Wolke erzeugt allerdings kein Rot.
Das Diffuse der Atmosphäre bricht gelbes Licht so, dass sie für die Erdbewohner blau erscheint. Das Licht vor dem schwarzen Weltraum wird so weit abgedunkelt, dass die Atmosphäre eben blau erscheint. Dies ist ein Urphänomen, das demzufolge nicht weiter zurückgeführt werden kann.
Die Entstehung des Purpurrot entsteht im sogenannte Goethespektrum durch Überlagerung von Rot und Blau. Dieser Farbton wird auch Magenta genannt und ist gut geeignet in den Druckverfahren. Er geht auf eine Entdeckung Goethes zurück, ist auch in seinen Farbkreis eingeordnet. Zwischen Gelb und Blau entsteht Grün. Goethe versuchte zu zeigen, dass das weiße Licht nicht zusammengesetzt ist und sich Farben aus einer Wechselwirkung von Licht und Finsternis ergeben. In diesem Sinne deutete er die Kantenspektren die er beim Betrachten dunkler Streifen auf hellem Hintergrund und heller Streifen auf dunklem Hintergrund durch ein Prisma sah. Diese Erfahrung gab ihm den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung seiner eigenen Farbenlehre.
Runge ordnet die Farben auf seiner Farbkugel an. Im Schnitt von Nord- zu Südpol zeigt sich dabei eine Grauachse. Wichtig sind ihm die Komplementärfarben; solche, die bei Mischung Weiß oder Schwarz ergeben. Blau-Orange, Rot-Grün und Gelb-Violett sind nach Goethe Komplementärfarben. Runge ordnet sie auf seiner Farbkugel an. Von dort bekommen sie auch ihre Grauwerte, und damit werden auch Brauntöne und „schmutzige Farben“ möglich. Auch sie abbilden zu können, ist Runges Leistung. Er schafft Probedrucke. Schon 1807 kommt ein Hinweis von ihm an Goethe.
Den Grundfarben in der Farbanordnung werden menschliche Eigenschaften zugeordnet: oben Rot als Idee der Liebe, unten Grün als Reales, aber auch schön und unschön. Auch wird in männliche und weibliche Leidenschaft unterteilt. Somit symbolisiert der Farbenkreis ebenso das menschliche Geistes- und Seelenleben. Goethe und Runge kommen hierbei auf ähnliche Erkenntnisse.

Auf Dichters Spuren in die Lausitz

Frühlingsausflug der Goethegesellschaft

Von Erika Seidenbecher

Der Frühlingsausflug der Goethegesellschaften Gera und Erfurt vom 24-28. April war eine Bildungsreise, die nach Kamenz, Bautzen, Cottbus, Frankfurt/Oder, Landsberg an der Warthe (Gorzow Wielkopolski), Neutornow und nach Bad Freienwalde führte. Unser Ziel war es, Wohn- und Wirkungsstätten bekannter Persönlichkeiten kennen zu lernen.
Wir fuhren durch das vielgestaltige Hügelland der Oberlausitz, sahen Teiche, Wälder und sattgrüne Wiesen, blühende Bäume und die unverfälschte Natur der Ober- und der Niederlausitz.
Unser erstes Ziel war die Lessingstadt Kamenz, die sorbische Stadt am Hutberg, in der der bedeutende deutsche Dichter, Gotthold Ephraim Lessing am 22. 01.1729 geboren wurde. Im Museum wurden wir nicht nur mit der Biographie Lessings bekannt gemacht, sondern auch mit dem Verhältnis Lessings zum Theater. Seine Theatermodelle, Entwürfe von Bühnernbildern und Kostümen und Auszüge aus seiner „Hamburgische Dramaturgie“ sind interessante Anschauungsobjekte. Interessant war auch, dass Goethe als Jugendlicher über den um 20 Jahre älteren Dichter lächelte und später tief bereute, dass er keinen Kontakt zu Lessing gesucht hatte. Über Lessings Gedanken der Toleranz, den er im „Nathan der Weise“ zum zentralen Thema erkor, sollten wir gerade heute gründlich nachdenken.
Wir fuhren weiter nach Bautzen. Die „Stadt der Türme“ an der Spree ist die zweitgrößte Stadt der Oberlausitz und politisches und kulturelles Zentrum der Sorben. Die Vorfahren der Sorben, die slawischen Lusitzen, kamen zur Zeit der Völkerwanderung in dieses Gebiet, das nach ihnen benannt ist. Die Lausitz ist eine Region, in der Sorbisch und Deutsch als gleichberechtigte Sprachen nebeneinander existieren.
Die Altstadt von Bautzen erhebt sich auf einem Granitfelsen, umflossen von der Spree. Auf einem Stadtrundgang sahen wir den Kornmarkt, den St. Petri-Dom, das barocke Rathaus, schöne barocke Bürgerhäuser, das Domstift, das Schloss, die Ortenburg, das Sorbische Museum und das Deutsch-Sorbische Volkstheater. Im St.-Petri-Dom sahen wir das Licht-Kreuz als ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens. Es steht für den Leidensweg Jesu und schließt gleichzeitig jegliches Leid der Menschheitsgeschichte ein. Andererseits steht das Kreuz für die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod, das Licht ausdauernder als die Dunkelheit.
Überall in Bautzen wurden wir an das vergangene Osterfest erinnert. Wir sahen den österlich geschmückten Brunnen auf dem Markt, wunderschöne bemalte Ostereier (Ätz-, Ritz-, Wachstechnik), hörten etwas über das Osterreiten, das Schöpfen des Osterwassers und das Ostersingen. Der Stadtrundgang war gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit der Stadt, als die Stadt an der großen Handelsstraße Via Regia lag.
Unsere Fahrt ging weiter zur Universitätsstadt Cottbus (sorbisch: Chosebuz), der kreisfreien Stadt in Brandenburg. Cottbus gilt als politisches und kulturelles Zentrum der Sorben in der Niederlausitz. Die Stadt liegt an der mittleren Spree. Im Gebiet von Cottbus siedelten ab dem 7. Jahrhundert die Lusitzen. 1156 wurde die Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Die Besitzverhältnisse wechselten recht oft. 1701 gründeten die Hugenotten in Cottbus eine französische Kolonie. Mit dem Pflanzen der ersten Maulbeerbäume im Jahr 1718 hielt die Seidenraupenzucht Einzug. So wurde Cottbus schon während der Gründerzeit zu einer Stadt der Textilindustrie und des Textilmaschinenbaus. Zur Zeit der DDR wurde das Gebiet um Cottbus zu einem wichtigen Kohle- und Energielieferanten. Mit dem Bus fuhren wir durch die große 15 qkm große Stadt. Die Altstadt erkundeten wir zu Fuß.
Auf dem Markt findet zweimal im Jahr der Wochenmarkt statt. An 1304 Marktständen bieten Händler heimische Produkte an. Eine Glocke verkündet Beginn und Ende des Markttages.
Wir besichtigen den Spremberger Turm und die jüdische Synagoge.
Am Nachmittag fuhren wir zum Branitzer Park. Fürst Pückler erbte das Schloss Branitz und gestaltete einen der schönsten Parks Deutschlands. Fürst von Pückler-Muskau war Generalleutnant, Landschaftsarchitekt, Schriftsteller und Weltreisender und seinerzeit ein bekanntes Mitglied der gehobenen Gesellschaft.
Der Innenpark stellt, im Gegensatz zum reich geschmückten Pleasureground (ein an das Haus stoßendes, geschmücktes, eingezäuntes Terrain, Verbindungsglied zwischen dem Park und Gärten) eine „zusammengezogene idealisierte Natur“ dar. Pückler ließ dazu Seen und Kanäle ausheben und Hügel modellieren, sodass aus der ursprünglich flachen Ebene ein natürlich wirkendes Relief entstand. Im Zentrum des Parks liegt das Barockschloss Es zeigt in historisch ausgestalteten restaurierten Räumen die Wohnwelt des Fürsten Pückler.
Wir fuhren an diesem Tag noch nach Frankfurt. Am Abend besuchten wir das Kabarett „Oderhähne“. Die Aufführung von „Mat(ts)chos mögens heiß“, war ein Genuss. Eines haben die Kabarettisten auf jeden Fall mit dem Frankfurter Wappen-Hahn gemeinsam: Den spitzen Schnabel und die scharfen Krallen.
Am Morgen des 26. April unternahmen wir eine Stadtführung durch die Universitätsstadt Frankfurt , die in früheren Jahren der Hanse angehörte. Der Rundgang begann im Gertraudenpark an der Lindenstraße. Dort sind die Grabmale für Ewald von Kleist und Heinrich von Kleist zu sehen.
Ewald Christian von Kleist war ein deutscher Dichter und preußischer Offizier. Er studierte in Fankfurt/Oder und in Königsberg und diente im Regiment des Prinzen Heinrich von Preußen. Als Friedrich II. im Siebenjährigen Krieges gegen die russisch-österreichischen Armee kämpfte und eine Niederlage erlitt, zerschmetterte eine Kartätschenkugel das rechte Bein von Ewald von Kleist. Er starb an seinen Verwundungen und wurde in Frankfurt begraben.
Das wichtigste Denkmal Frankfurts ist jedoch dem bekanntesten Sohn der Stadt, Heinrich von Kleist, gewidmet. Es wurde 1910 vom Berliner Künstler Gottlieb Elster geschaffen.
Mit Frankfurt sind auch die Namen anderer Persönlichkeiten verbunden:
Der Komponist Michael Praetorius war einige Jahre in Frankfurt zu Hause. Er studierte Theologie und Philosophie an der Universität in Frankfurt/Oder, nebenbei war er als Organist an der Universitätskirche tätig. 1590 verließ er, ohne abgeschlossenes Studium, Frankfurt.
Zu nennen sind auch die Brüder Alexander und Wilhelm Humboldt, die einen Teil ihres Studiums in Frankfurt absolvierten.
Auch Carl Emanuel Philipp Bach immatrikulierte sich 1734 an der Brandenburgischen Universität Frankfurt und war Mitglied des dortigen Collegiums musicum. Als Kammercembalist Friedrichs II. unterrichtete er in Berlin den jungen Herzog Carl Eugen von Württemberg Ihm widmete er die sechs Württembergischen Sonaten für Cembalo (Nürnberg 1744), nachdem er zuvor seine sechs Preußischen Sonaten Friedrich II. zugeeignet hatte.
Während der Stadtführung sahen wir in Frankfurt die Oberkirche St. Marien. Das Kirchengebäude, die ehemalige Hauptpfarrkirche der Stadt, gehört zu den größten Gebäuden der norddeutschen Backsteingotik. Eine Besonderheit sind die drei großen Bleiglasfenster. Interessant ist auch das Rathausgebäude mit dem Uhrenturm und der Oderturm. Der Fisch aus dem Jahre 1454, der zum Wahrzeichen der Stadt wurde, hängt über dem südlichen Schmuckgiebel des Rathauses. Er symbolisiert das Recht der „Höhung“ in den Heringsfässern.
Unser Interesse galt aber dem Kleistmuseum. Der am 18. Oktober 1777 in Frankfurt geborene Dichter ist bekannt durch seine Schauspiele: „Das „Käthchen von Heilbronn“, „Der zerbrochene Krug“, „Amphitryon“ und der Novelle „Michael Kohlhaas“. Der „Zerbrochene Krug“ wurde durch Goethes Vermittlung in Weimar uraufgeführt. Der Schauspieler, der Adam spielte, wurde seiner Rolle nicht gerecht. Außerdem war das Drama damals zu lang. Kleist war tief enttäuscht, denn die Aufführung wurde ein Misserfolg und der Dichter meinte, Goethe sei daran schuld. Kleist studierte an der Brandenburgische Universität in Frankfurt, brach aber das Studium ab und trat in die Preußische Armee ein. Der Militärdienst war ihm aber unerträglich geworden. Deshalb quittierte er den Dienst und nahm seine Studien wieder auf. Danach arbeitete er als Volontär im preußischen Wirtschaftsministerium in Berlin. Er reiste viel, suchte einen Halt im Leben, aber seine Ideale stimmten mit der Wirklichkeit nicht überein. Er war ein Mensch, der ständig innerlich unzufrieden war. Seine Zerrissenheit äußert sich auch in seinen Werken. 1811 fuhr er mit Henriette Vogel zum Kleinen Wannsee und erschoss Henriette und sich selbst. Die Abschiedsbriefe der Beiden zeugen davon, dass es ein Freitod war.
Nach der Besichtigung des Museums spielte Dieter Schumann, Geschäftsführer der Erfurter Goethe-Gesellschaft, auf einem Flügel Werke von Beethoven. Am Nachmittag fuhren wir noch zu dem Basar im polnischen Slubice.
Am nächsten Tag, am 27. April, fuhren wir nach der polnischen Stadt Gorzow Wielkopolski an der Warthe, die 70 km von Frankfurt entfernt ist und zu deutsch Landsberg hieß. Während der Busfahrten erfuhren wir auch, dass Ulrich von Hutten einen Teil seines Studiums in Frankfurt absolvierte und hier 1506 sein Bakkalaureat ablegte. Er schrieb das Gedicht „Lob der Mark“, ein Loblied auf die Mark Brandenburg.
Wir erfuhren, dass Christa Wolf 1929 in Landsberg an der Warthe als Tochter der Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld geboren wurde. Sie besuchte dort bis kurz vor Kriegsende die Schule. Nach der Flucht vor den anrückenden Truppen der Roten Arme fand die Familie 1945 vorerst in Mecklenburg eine neue Heimat. Christa Wolf arbeitete als Schreibhilfe beim Bürgermeister des Dorfes Gammelin bei Schwerin. Sie beendete die Oberschule 1949 mit dem Abitur in Bad Frankenhausen. Von 1949 bis 1953 studierte sie Germanistik in Jena und Leipzig. Ihre Diplomarbeit schrieb sie zum Thema: Probleme des Realismus im Werk Hans Falladas. Während der Busfahrt hatte uns Karin Volkmer schon mit dem Leben und Wirken der Dichterin vertraut gemacht. Sie las uns aus dem Roman „Kindheitsmuster“ der Dichterin vor, das autobiographische Züge trägt.
Auch das Leben des Dichters Gottfried Benn ist mit Brandenburg verbunden. Er besuchte das Gymnasium in Frankfurt/Oder und war während des II. Weltkrieges in der Kaserne in Landsberg stationiert. Hier schrieb er u.a. seinen Roman „Roman des Phänotyp“(1943).
Zu nennen ist auch der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der von 1794-1796 Hilfsprediger in Landsberg/Warthe war. Als Hegelianer war er Vertreter der Dialektik. Aber auch der Religion maß er große Bedeutung zu. Sie gehört nach seiner Ansicht genauso zum Menschen wie das Denken und das moralische Handeln.
Sohn der Stadt Landsberg ist auch der Romanist und Politiker Victor Klemperer, der 1881 hier geboren wurde. Als Überlebender des Holocaust war er ein wichtiger Chronist und Zeitzeuge der Jahre vor und während der Nazizeit. In der DDR war er Vertreter des Kulturbundes und Abgeordneter der Volkskammer. Er starb 1960 in Dresden.
In Landsberg hatten wir eine Führung durch die Stadt, in der zur Zeit die Straßenbahnlinien erneuert werden. Dadurch ist die Stadt gegenwärtig ein einziger Bauplatz. Die Führung begann im Stadtpark. Dort befindet sich auch eine Skulptur, die die Autorin Christa Wolf in sitzender Position zeigt. Der Stadtführer erzählte uns, dass Christa Wolf nach der Wende Landsberg besuchte und der Stadt ihren polnisch geschriebenen Roman„Dziecinstwo“ (Kindheitserinnerung) überreichte.
Die Stadt gehört seit dem Wiener Kongress zu Brandenburg. Die Gemeinde ließ Mitte des 19. Jahrhunderts, nach Plänen des Berliner Architekten Carl Tietz, eine Synagoge im byzantinischen Stil errichten, die in der Kristallnacht von den Nazis niedergebrannt wurde. Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein an die Synagoge. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören: Der Dom St. Marien aus dem späten 13. Jahrhundert, die Konkordienkirche von 1776, die wegen ihrer Außenfarbe auch Weiße Kirche genannt wird. Nach dem II.Weltkrieg wurde sie umgestaltet und als Teil eines Klosters erweitert. Sehenswert ist auch das Historische Speichergebäude auf der gegenüberliegenden Warthe (heute Museum) und die Uferpromenade an der Warthe. Genannt werden sollte auch der Paucksbrunnen auf dem Marktplatz von 1897.
Am Sonntag, dem 28.04.2019 fuhren wir noch nach Neutornow und Bad Freienwalde. Neutornow gehört zu Bad Freienwalde. Auf dem Kirchhof, südlich der Kirche, die hoch über dem Ort liegt, befindet sich die Grabstätte des Vaters von Theodor Fontane. Nach dem Besuch des Grabes fuhren wir noch nach dem Moorbad Bad Freienwalde und besichtigten die spätgotische Kirche. Danach fuhren wir zurück in die Heimat. Unser Ausflug war verbunden mit Lesungen, musikalischen Darbietungen, Gesang und Frohsinn.
Dank allen, die die Reise so umsichtig und präzise vorbereitet haben. Dank auch unserer Busfahrerin, die nicht nur für eine sichere Fahrt sorgte, sondern auch für unser leibliches Wohl. Es war eine sehr gut organisierte und interessante Bildungsreis, die allen Teilnehmern gut gefallen hat.

Wielands Teutscher Merkur – ein neuer Zeitschriftentyp in Deutschland

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar am 3. April 2019

Die Zeitschrift wurde in Weimar herausgegeben. Ihr Vorbild war die französische „Mercure de France“, die literarisch-politische und andere Themen beinhaltete. Wieland lernte auch deren Redakteur, einen Abbe Renald, kennen, eine Begegnung in Weimar.
Im April 1773 erschien das erste Heft. Es war finanziell ein gewagtes Unternehmen. Die Zeitschrift sollte im Sinne der Aufklärung wirken. Sie war folglich kosmopolitisch angelegt. Die Themen waren überaus vielfältig. Sie umfassten auch Naturthemen, so gab es einen Aufsatz über die Entdeckung der Nilquellen. Wieland veröffentlichte auch Reiseberichte Georg Forsters. Er interessierte sich ebenso lebhaft für technische Neuerungen: Dampfmaschinen und die Ballonfahrt der Brüder Montgolfier.
Wieland war stark der politökonomischen Richtung des Merkantilismus verhaftet; alles sollte dem Nutzen der Menschen dienen. Daher schwärmte er weniger für die schönen Barockgärten, umso mehr für „ein wohlbestelltes Feld“. Es sei viel nützlicher für die Menschen. Er war ja zwischen 1797 und 1803 selbst Gutsbesitzer. In Oßmannstedt besaß er 100 Hektar, dazu auch Vieh. Er setzte sich dafür ein, dass die in der Dreifelderwirtschaft übliche Brache nicht leer dalag, sondern mit Futterpflanzen, so Luzerne, Lupine und vor allem Klee bestellt wurde. Er nannte sich selbst einen „poetischen Landjunker“. Er sah es als Pflicht für den Menschen an, den Tieren ein „Wohlleben“ zu gewähren; somit erwies er sich als Vorkämpfer für Tierschutz und Tierwohl.
Mit seiner neuartigen Zeitschrift wollte Wieland die verschiedensten Lesergruppen erreichen. So warb er um Herders Mitarbeit. Der war damals noch Hofprediger in Bückeburg. Herder schrieb einen Aufsatz über den großen Renaissance-Humanisten Ulrich von Hutten. Er lobte ihn in den höchsten Tönen, sah in ihm sogar einen Vorkämpfer der Reformation. Dagegen betrachtete er Erasmus von Rotterdam als Schwächling und Verräter an der protestantischen Sache.
Eine solche Sicht musste natürlich die katholischen Leser verärgern. Die Zeitschrift hatte beispielsweise viele Leser im katholischen Bayern und in Österreich. Wieland griff zu einer List. Er ließ zwar Herders Aufsatz unverändert abdrucken, versah ihn jedoch mit einer beschwichtigenden Fußnote, mit der er sich von Herder distanzierte. Der „Teutsche Merkur“ sollte überparteilich sein. Diese Fußnote verärgerte Herder über alle Maßen.
Nun entwickelte sich der „Merkur“ immer mehr zu einem Spiegelbild der unterschiedlichsten Themen, so fanden Aufsätze über Literatur, Landeskunde, Reisen, Naturkunde, Kunst, Musik, Ökonomie, Recht und Politik Eingang. Sogar über die Monsunwinde in Indien wurde spekuliert. Thema war auch die Erfindung der ersten Rechenmaschine von Leibniz, ergänzt durch Nachrichten von einer verbesserten Rechenmaschine durch einen Pfarrer aus Kornwestheim.
Goethe, Schiller, der Verleger Bertuch und der Dichter Heinse waren Autoren des „Teutschen Merkur“, ebenso die Jacobis, der Erfurter Statthalter Dalberg, die Dichter Lenz, Klinger, Gleim, Bürger, Jung-Stilling, Geheimrat Voigt und der Hofprediger Graef aus Gera. Goethes Gedicht über Hans Sachs poetische Sendung wurde im „Merkur“ veröffentlicht und auch sein Monodrama „Proserpina“.
Es zeigten sich erhebliche Niveauunterschiede, die Goethe einmal veranlassten vom „Sau-Merkur“ zu sprechen.
Als Novum wurde im „Merkur“ der Fortsetzungsroman eingeführt, auf diese Weise erschienen Wielands „Abderiten“. Dies stieß auf Goethes Ablehnung, sinngemäß meinte er: So etwas schnipselweise liest doch kein Mensch.
Wieland hat auch junge Talente gefördert. So schrieb ein gerade erst 16-jähriger Dichter ein 25 Seiten langes Gedicht, das Eingang in den „Merkur“ fand.
Mit Schiller hatte Wieland eine längere Unterredung. Er bot ihm Mitarbeit an. Schiller zeigte sich begeistert, er erhoffte sich dadurch eine Verbesserung seiner finanziellen Lage. In einem Brief an seinen Jugendfreund Huber war von 1000 Talern möglichen Profits die Rede.
Der „Teutsche Merkur“ verfügte zu jener Zeit, um 1787, über 1400 Subskribenten. Nach Abzug aller Kosten blieben Wieland je Ausgabe etwa 200 Reichstaler übrig.
Schiller veröffentlichte zum Beispiel seine „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, die mit einer Vorrede Wielands versehen wurde. Auch die Einleitung zum „Abfall der vereinigten Niederlande …“ erschien in Wielands Publikation, ebenso das Gedicht „Die Götter Griechenlands“.
Schiller erwies sich indes als oft sehr nachlässig. Wieland drängte, denn der Abgabetermin drängte. „Ich sitze im Todesschweiß, da machte ich mir aus Angst ein Gedicht.“ Das erschien nun anstelle Schillers ausgebliebener oder verspäteter Lieferung. Wieland mahnte: „Sie scheinen den Teutschen Merkur vergessen zu haben.“
Wieland hat Schiller sehr gefördert, er führte ihn sogar bei Hofe ein. Dennoch erwies sich Schiller als höchst undankbar. Er schrieb später sehr negativ über Wieland, trug er sich doch mit eigenen Zeitschriftenplänen, inbesondere den „Horen“. Hier wurden beispielsweise Goethes „Venezianische Epigramme“ zuerst veröffentlicht. „Die Horen müssen jetzt mit u geschrieben werden“, meinte hingegen Wieland. Schiller, retour, schrieb an den Verleger Cotta: „Wenn die Horen herauskommen, wird der Teutsche Merkur gewiss eingehen.“ Für den „Merkur“ sei jetzt jeder schlechte Aufsatz gerade gut genug. Doch mit seiner Prognose lag Schiller falsch. Seine „Horen“ gingen nach drei Jahrgängen ein, Wielands „Merkur“ hingegen erlebte 37 Jahrgänge, nämlich von 1773 bis 1810. Ab 1790 hieß die Zeitschrift „Der Neue Teutsche Merkur“.
Etwa 1500 Autoren waren beteiligt, ebenso Übersetzer und etwa 100 Künstler, die z. B. Kupferstiche lieferten. Musikalien wurden ebenfalls veröffentlicht. Der Darmstädter Naturforscher und Herausgeber Johann Heinrich Merck, Goethes Freund, steuerte Rezensionen bei. Er schrieb auch einen großen Aufsatz über prähistorische Tierknochen.
In den 90-er Jahren kam Wielands Schwiegersohn, Prof. Reinhold aus Jena, zu Wort, er verbreitete in vielen Aufsätzen im „Merkur“ die Lehre Kants.
Die Leser setzten sich vor allem aus dem gebildeten Bürgertum und dem Reformadel zusammen. Wieland schrieb 18 Aufsätze über die Französische Revolution, nahm pronociert zur Pressefreiheit Stellung; Pressefreiheit, „wodurch sich unser Europa rächen kann“. Man nehme uns diese Freiheit, und Unwissenheit, und Europa werde bald wieder in Dummheit und Despotie ausarten.
Nie habe eine Nationalversammlung der Menschheit soviel Ehre gemacht wie diese, schrieb Wieland über die Franzosen. Hier geschehe der Übergang von der Knechtschaft in Freiheit. So akzeptierte er die Hinrichtung Ludwig XVI. als notwendig, kehrte sich aber von der Schreckensherrschaft der Jakobiner ab. Der „Merkur“ wurde zur wichtigsten Informationsquelle über die revolutionären Ereignisse in Frankreich.
Hierzu ein Beispiel. 1790 gab es einen Bauernaufstand in Sachsen. Ein Seilergeselle namens Benjamin Geißler verteilte Flugblätter, die zur Entmachtung des Adels und zur Absetzung der sächsischen Landesregierung aufriefen. Geißler wurde beim Verteilen der Flugblätter ertappt und verhaftet. Auf die Frage des Richters, woher er denn seine Informationen beziehe, antwortete Geißler: aus dem Teutschen Merkur und aus umlaufenden Gerüchten. Also haben auch Handwerker den „Merkur“ gelesen.
Wieland war aber eher Anhänger der konstitutionellen Monarchie englischer Prägung mit ihrer Gewaltenteilung. Er sah die zunächst rettende Rolle Napoleons für die Ereignisse in Frankreich voraus, setzte auf ihn seine Hoffnungen. Am 6. Oktober 1808 wurde er sogar vom Imperator gemeinsam mit Goethe im Weimarer Stadtschloss empfangen. Napoleon würdigte Wieland mit den Worten: „Wir nennen Sie den Voltaire Deutschlands“. Beide erhielten den Orden der Ehrenlegion.
Der „Merkur“ hatte auch viele Leser im Ausland, in Schottland, beispielsweise, war die Zeitschrift gut bekannt. Sie wurde dort insbesondere von Kommissionären vertrieben. Doch auch in Riga wurde der „Merkur“ gelesen. Seine Auflage ging indes im Laufe der Jahre zurück. Bestand die Auflage anfangs noch aus 2500 Exemplaren, so sank sie später auf 800. Dennoch erschien der „Merkur“ bis 1810.
Veröffentlicht wurden auch Anzeigen von Buchhändlern. Guthsmuths veröffentlichte einen Aufsatz über gymnastische Leibesübungen.
Goethe hat in einer Logenrede Wieland nach dessen Tod 1813 sehr gelobt und so auch dessen Zeitschrift. Dieses Unternehmen sei zwar nicht das erste seiner Art gewesen, aber doch neu und bedeutend, und der Teutsche Merkur könne mehrere Jahre hindurch als Leitfaden in unserer Literaturgeschichte gelten.