Goethe Gesellschaft Gera e.V. » Rückblick

„Und möchte gern im besten Sinn entstehn“ – Zum Bildungsprozess der Homunculus-Figur in Goethes Faust II

Vortrag von Prof. Rudolf Dux, Köln, am 7. Juni 2023

In der Szene „Laboratorium“ in Faust II stellt Goethe dar, wie der „hochgelehrte“ Magister Wagner „durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist“. Dessen begeisterte Schilderung ist klar zu entnehmen, was sich „in der innersten Phiole“ ereignet. Darin

Erglüht es wie lebendige Kohle,

Ja wie der herrlichste Karfunkel,

Verstrahlend Blitze durch das Dunkel.

Ein helles weißes Licht erscheint!

Sichtbar wird im Spiel der Farben, dass Wagner das Destillationsverfahren der Alchimisten zur Läuterung und Umwandlung von Stoffen anwendet: Die in der Flasche in strahlendem Rot erglühende und in ein „helles weißes Licht“ verfeinerte Kohle zeigt die Umwandlung der materia prima an, aus der sich nach anfänglicher Schwärzung (negrido) durch Aufhellung (albedo) der Homunculus (Menschlein) entwickelt, womit das alchimistische opus magnum verrichtet ist.

Klar wird die Genese des Homunkel (mit alchimistischen Fachbegriffen) beschrieben:

Es leuchtet! Seht! – Nun lässt sich wirklich hoffen,

Dass, wem wir aus vielen hundert Stoffen

Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an,

Den Menschenstoff gemächlich komponieren,

In einen Kolben verlutieren,

Und ihn gehörig kohobieren,

So ist das Werk im stillen abgetan.

(verlutiert – mit Lehm verschlossen; kohobiert – mehrfach destilliert)

1828, ein gutes Jahr, bevor er die Homunculus-Episode endgültig niederschrieb, gelang es Friedrich Wöhler, eine organische Substanz, den Harnstoff, synthetisch herzustellen, womit durch „Kristallisieren“ (wie damals die mechanische Veränderung anorganischer Stoffe bezeichnet wurde) das größte Geheimnis der „organisierenden Natur“ enthüllt zu sein schien.

Dass Goethe nicht viel von solch „pergamentenem“ Erkenntnisoptimismus hielt und die Überzeugung des Adepten Wagner ablehnte, auf den natürlichen Zeugungsakt zu Gunsten eines „höhern Ursprungs“ des Menschen verzichten zu können, das gibt auf der Handlungsebene des Dramas der weitere Werdegang des „Männleins“ in vitro zu verstehen: Als Galatea, der Meerestöchter Schönste, am Ende der Klassischen Walpurgisnacht erscheint, zerschellt es mit seiner Phiole „von Pulsen der Liebe gerührt“ an ihrem Muschelwagen – die Schönheit der Göttin, Signum vollkommener Körperlichkeit, nach der sich Homunculus im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit als reines Geistwesen sehnt, treibt ihn ins Meer, wo alles Lebendige seinen Ursprung hat. Indem er so den ehernen Gesetzen der Natur gehorcht, kann er seinen dringlichsten Wunsch erfüllen und wirklich „im besten Sinn entstehn“.

Das Begehren, „weislich zu entstehn“ ist leitmotivisch mit Homunculus verbunden; dass er „voll Ungeduld“ den „geschloßnen Raum“verlassen möchte, auf den er als „künstlich“ Geschaffener angewiesen ist, rechtfertigt „der große Zweck“ völliger Menschwerdung. Zum Schluss geht das Feuer seines reinen Geistes in den Urkörper des Ozeans ein, was die Sirenen, im Duktus einer rhetorischen Frage mit Daktylen und Alliterationen als „ägäisches Fest“ hymnisch preisen:

Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,

Die gegeneinander such funkelnd zerschellen.

Im Spiel der sich vereinigenden Elemente, das zugleich mit der Verbindung von Männlichem und Weiblichem als Koitus (also wiederum sehr körpernah) konnotiert ist, wird Homunculus zur organischen Ganzheit und bringt damit das Geheimnis des Lebens zur Anschauung.

Von daher lässt sich nachvollziehen, dass bei der Suche nach der Bedeutung des Homunculus auch eine Nachlass-Notiz seines Sekretärs Riemer herangezogen wurde: Goethe habe mit dieser Figur „die reine Entelechie darstellen wollen, (…) den Geist des Menschen, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt“, d. h. jene Einheit des Lebens, die das Ziel (telos) seiner Entwicklung als Anlage in sich trägt, seine materielle Form organisierend und gestaltend.

Doch auch auf der seichteren Ebene eines literaturkritischen Diskurses ist Homunculus ausgemacht worden: Das reine Geistgeschöpf, das nach einem Körper strebe, sei eine Parodie auf die romantische Universal-Poesie, die laut einem Diktum ihres Programmatikers Friedrich Schlegel beständig „im Werden“ und durch die Mischung der Gattungen („auf Mischung kommt es an“) gekennzeichnet sei. Diese Dichtung hat aber nach Meinung des alten Goethe nur theoretische Entwürfe, Schemen, Kopfgeburten statt lebendiger Werke aus Fleisch und Blut hervorgebracht.

Früherer Gewährsmann der Homunculus-Herstellung war der Hohenheimer Arzt und Naturphilosoph Paracelsus mit seiner Rezeptur, wie ein „Mensch außerhalb des weiblichen Leibes und einer natürlichen Mutter geboren werden könne“. Dabei muss „das Sperma eines Manns“ in einem dicht verschlossenen kürbisartigen Gefäß durch Einlagerung in Pferdemist einem intensiven Fäulnisprozess unterzogen werden. Wenn es „in steter gleicher Wärme“ des Dungs verbleibe und mit dem geheimnisvollen Menschenblut genährt werde, entstehe nach vierzig Wochen „ein recht lebendig menschlich Kind“, das jedoch viel kleiner sei als ein natürliches. Auf die Frau wird also verzichtet. Bis 1875 (Entdeckung der weiblichen Eizelle) galt, dass allein der Vater für die Nachkommenschaft bestimmend sei.

Insofern nun Homunculus nur aus „dem Sperma des Mannes“ bzw. aus einem spirituellen Prozess hervorgeht, der Mann aber in philosophischen Schriften etwa von Anaxagoras oder Aristoteles mit dem Verstand, mithin der prägenden Form, der strukturierenden Kraft korrelliert ist, muss der ohne stoffliche Weiblichkeit Geborene zwangsläufig geistiges Potenzial in Reinkultur aufweisen.

Und in der Tat, der frei von störender Weiblichkeit in vitro erzeugte Homunculus verfügt durchweg über herausragende geistige Fähigkeiten, die er auch bei Goethe demonstriert, wenn er als reines Geistwesen in der Phiole über die Bühne schwebt. Zum einen vermag er sich in Fausts Traum einzuschleichen und ihn als „die lieblichste von allen Szenen“ auszulegen, spielt sich in ihr doch eine weitere mythische Zeugung ab, nämlich die der schönen Helena, deren Mutter Leda von Zeus höchstpersönlich, „der Schwäne Fürsten“, beglückt wird; zum anderen ist er in der Lage, den Helena begehrenden Faust in die Antike zu geleiten. So bewährt sich Homunculus als Traumdeuter, Reiseleiter und Allheilnittel, d h. er nimmt genau die Aufgaben wahr, die die Alchemie dem Stein der Weisen zuschreibt (Homunculus wird auch als Stein der Weisen gesehen).

Dennoch empfindet er vom Augenblick seiner Entstehung an ein starkes Unbehagen an seiner Körperlosigkeit, die ihn als unvollkommenes Erzeugnis alchimistischer Laborarbeit stigmatisiert. Eben deshalb vermischt er sich, seinem „Bildungstrieb“ folgend, zum Höhepunkt des zweiten Aktes in der Klassischen Walpurgisnacht mit den Wellen des Meeres, aus dem das Leben „entsprungen“ ist, bevor es sich „in tausend, abertausend Formen entfaltet“ – und holt damit für sich die Evolution nach. So setzt Goethe der Urzeugung, der Entwicklung von Organismen aus anorganischen Stoffen im Labor das organische Wachstum „nach ewigen Normen“ in der Natur entgegen – das ist für das volle Menschsein unabdingbar.

Goethe und die Kinder

Vortrag von Prof. Volker Hesse, Berlin, am 3. Mai 2023

„Wenn man sich um der Kinder Willen keine Mühe gäbe, wie wäret Ihr groß geworden?“ – Mit diesem Zitat aus Goethes „Theatralischen Sendungen“ begann der Referent seinen Vortrag. Im Alter von16 bis 26 Jahren weilte der junge Goethe als Student in Leipzig und Straßburg, in Wetzlar und Frankfurt/Main. In all diesen Stationen fiel den ihn umgebenden Menschen seine spontane naive Liebe zu Kindern als ein wesentlicher Charakterzug auf. So gewann er in Sesenheim nicht nur die Zuneigung von Friederike Brion, sondern auch die ihrer jüngeren Geschwister Jacobea Sophie und Christian, die eifrige Zuhörer seiner Märchenerzählungen wurden.

Aus den „Leiden des jungen Werther“ ist uns Charlotte Buff bekannt. Sie, die zweitälteste Tochter, hatte noch elf Geschwister, mit denen sich Goethe lebhaft beschäftigte. Im „Werther“ heißt es: „Er (Werther/Goethe) balgte sich mit ihnen herum, lag mit ihnen auf der Erde, ließ sie auf sich herumkrabbeln, und es war bei solchen Szenen oft großer Lärm und großes Geschrei.“

Wieland, der als Prinzenerzieher nach Weimar gekommen war, nimmt ihn freundlich in seiner Familie auf. Goethe schreibt: „Wieland ist gar lieb, … und gar zu gern bin ich unter seinen Kindern.“ Bei der fünften Tochter Wielands wird Goethe Pate.

Goethe, der sich früh an Frau von Stein in Weimar band, hatte zu dieser Zeit keine eigenen Kinder. Er veranstaltete jedoch für die Kinder der Freunde, der Kinder Herders, Wielands, der Frau von Stein und anderer Weimarer Kinder Kinderfeste in seinem Garten, auch schrieb er Kinderballette und veranstaltete Tanzfeste für Kinder.

Eigene Erziehungsmethoden unternahm Goethe an zwei Pflegesöhnen, Peter im Baumgarten und dem zweiten Sohn der Frau von Stein, Fritz von Stein.

Peter, ein Schweizer Hirtenknabe, war das Pflegekind eines Barons von Lindau, den Goethe 1775 in Zürich kennengelernt hatte. Er besuchte Goethe 1776 in Weimar und nahm ihm das Versprechen ab, sich in seinem Todesfall um Peter zu kümmern. Als von Lindau 1776 auf Manhattan Island fiel, hielt Goethe Wort und ließ Peter 1777 nach Weimar kommen.

Peter gliederte sich jedoch schwer ein. Nach zwei Jahren fruchtloser Erziehung schickte ihn Goethe nach Ilmenau, um ihn als Förster ausbilden zu lassen.

Den Fritz von Stein lernte Goethe bereits als Dreijährigen kennen. Er nimmt ihn 1783 zur Erziehung für drei Jahre zu sich ins Haus. Der Mutter, Frau von Stein, schreibt er: „Du weißt nicht, wie sehr ich Dich auch in ihm liebe, und wie ich mich freue, dies Pfand von Dir zu haben.“

Um ihn zu bilden, nimmt ihn Goethe mit auf Reisen, in den Harz, nach Göttingen, Kassel, Gotha und Eisenach mit. Auch schickt er ihn nach Frankfurt/Main, damit er diese und die große Stadt kennenlernen sollte. Das gute Verhältnis zu Fritz dauerte fort, auch nachdem es nach Goethes Italienreise ‚(1786 – 88) zum Bruch mit Frau von Stein kam. Insgesamt fehlten aber in der Goetheschen Erziehung Kontinuität und Konsequenz sowie eine konsequente Logik.

Fritz von Stein schätzt die Periode beim „Wahlvater Goethe“ als die „glücklichste Periode seiner Jugend“ ein: „Er begegnete mir mit Liebe, Ernst und Scherz, so wie es nötig war, so dass ich sein Betragen gegen Kinder als ein Musters dieser Art betrachte.“

Goethe hat sich verschiedentlich zu Erziehungsfragen geäußert. Er verstand im Gegensatz zu einem überwiegend konservativen Zeitgeist das Kindsein im Sinne der Auffassungen von Rousseau als eine eigenständige Entwicklungsphase des Menschen. Er sah in der Erziehung vor allem die Aufgabe, angeborene Anlagen zu entwickeln. Die Erziehungsmaximen beinhalten folgende Grundsätze:

  • Das Heranführen des Kindes an die Dinge der Wirklichkeit
  • Die Bildung entsprechend den vorhandenen Anlagen zu gestalten
  • Die Forderung nach Heiterkeit in der Pädagogik und Milde des Lehreres
  • Die Erziehung der Jugend zur Ehrfurcht den Erwachsenen gegenüber

Literarisch hat er u. a. Kinderfiguren im Sohn des „Götz von Berlichingen“, im „Werther“, in Wilhelm Meister“ (Felix, Hersilie und Mignon), das Kind in der „Novelle“, Kinder in den Maskenzügen und den unbeherrscht strebenden Euphorion ‚(Faust II) gestaltet.

Die Grenzen der Pädagogik Goethes liegen in der Überbewertung der Selbstentwicklung und der fehlenden erzieherischen Konsequenz, die auf einen systematischen und umfassenden Wissenserwerb zusätzlich zur Anschauung drängt.

Im Alter von 40 Jahren wurde Goethe Vater, die Mutter Christiane Vulpius war 24 Jahre alt. Der Sohn August war das einzige überlebende der fünf Kinder, die Goethe gemeinsam mit Christiane hatte. Ein Knabe wurde tot geboren, die anderen drei Kinder verstarben drei bis 20 Tage nach der Geburt, zusätzlich hatte Christiane mehrere Fehlgeburten. Goethe freute sich sehr auf seine nachgeborenen Kinder und war nach dem Ableben sehr betrübt.

Erzieherisch wirkte Goethe auch als Theaterdirektor auf heranwachsende kindliche und jugendliche Schauspieler ein. Besonders innig war seine Verbindung zu der Schauspielerin Christiane Neumann,später verheiratete Becker, die 12-jährig an das neugegründete Weimarer Hoftheater kam, das Goethe leitete. Nach ihrem frühen Tod schuf er ihr mit der Elegie „Euphrosyne“ ein bleibendes Denkmal.

Den Sohn der berühmten Schauspielerin Friederike Unzelmann nahm Goethe 1802 zur Ausbildung ans Weimarer Theater. Er bemühte sich um die Schauspielausbildung und lud ihn gelegentlich als Tischgast in sein Haus. Gegenüber der Mutter entschuldigte er gütig Unarten des Knaben: „Mit Ihrem Söhnlein werden Sie Geduld haben, wenn manchmal die Nachricht von einer kleinen Unvorsichtigkeit zu Ihnen gelangt. Solche Kinder, in fremde Verhältnisse gesetzt, kommen mir vor wie Vögel, die man im Zimmer fliegen lässt, sie fahren gegen alle Scheiben, und es ist schon Glück genug, wenn sie sich nicht die Köpfe einstoßen, ehe sie begreifen können, dass nicht alles Durchsichtige durchdringlich ist.“

Nachdem der 8-jährige Felix Mendelssohn(-Bartholdy) bereits auf Empfehlung Zelters zusammen mit seiner Mutter Goethe 1817 in Weimar besucht hatte, brachte der Leiter der Berliner Singakademie seinen Meisterschüler zusammen mit seiner Tochter 1821 mit nach Weimar, und Felix wohnte als 12-Jähriger vom 3. bis 19. November 1821 in Goethes Haus.

Goethe mochte den munteren und wohlerzogenen Knaben sehr. Felix begeisterte Goethe durch sein Pianospiel; dieser legte ihm Originalnoten von Mozart und Beethoven vor, und Felix konnte sie nach kurzer Konzentration zu Goethes Überraschung vom Blatt spielen.

Goethe wuchs nach dem Tod seiner anderen Geschwister mit seiner Schwester Cornelia auf, mit der er auf das Engste verbunden war. Ihren frühen Tod (mit 26 Jahren) nach der Geburt der zweiten Tochter verwand er nur schwer. Die schwere seelische Verletzung mag es mit sich gebracht haben, dass er keinen direkten Anteil an den heranwachsenden Töchtern Cornelias nahm.

Eine besondere Freude hatte der alternde Dichter an den Enkeln. Nach dem Tod seiner Frau Christiane 1816 hatte Sohn August Ottilie von Pogwitsch geheiratet. Aus dieser Verbindung gingen drei Enkel hervor, Walter Wolfgang (1818), Wolfgang Maximilian (1820) und Alma (1827).

An Marianne von Willemer schreibt er: „Meine Enkel sind wirklich wie heiteres Wetter, wo sie hintreten, ist es hell.“

Die Knaben durften selbst in Goethes Heiligtum, sein Arbeitszimmer, zum Spielen kommen. Bei der letzten Reise, die der 82-jährige universelle Geist von Weimar unternimmt, begleiten ihn die Enkel. Mit den Augen der Enkel sieht er die vertraute Ilmenauer Umgebung.neu. Als Goethe stirbt, sind die Enkel um ihn. Noch am Morgen des Sterbetages trank Goethe mit dem Zweitgeborenen „Wolf“ seinen Kaffee. In einem Brief heißt es: „Der Umgang mit Kindern macht mich froh und jung“, und Werther lässt er sagen: „Die Kinder sind meinem Herzen am nächsten auf der Erde.“

Ausflug nach Weißensee

Am 15. April, bei schlechtem Wetter, führten wir unsere erste Studienfahrt in diesem Jahr durch. Sie führte uns ins nordthüringische Weißensee. Hans-Peter Brachmanski hatte alles auf perfekte Weise organisiert. Zunächst besichtigten wir den Chinesischen Garten, erfreuten uns an den exotischen Skulpturen, den verschiedenen Erlebnisstätten wie Teich, Bach, kleinen Pagoden, kleinen Pflanzen- und Blumenarealen.

Der Marktplatz mit dem wunderschönen Renaissance-Rathaus wie auch die Kulturkirche gerieten sodann ins Blickfeld. In der Kirche, geweiht Peter und Paul, erregte der schöne Altar unsere Aufmerksamkeit. Kurios, dass man in der Zeit der Reformation der Gottesmutter einen Bart angemalt hatte, die somit zur Christusfigur avancierte. Man wollte wohl ein Zeichen gegen die katholische Heiligenverehrung setzen.

Durch die Runneburg führte uns „Burgvogt“ Tino Trautmann. Das uralte Gemäuer, einstmals eines der Sitze thüringischer Landgrafen, war interessant; so bewunderten wir ein filigranes Kapitell einer zufällig entdeckten, leider längs geteilten Säule – Zeugnis hoher mittelalterlicher Steinmetzkunst. Der große Festsaal imponierte durch sein Gebälk, der mittige Längsbalken erreicht dreißig Meter, führt von der Stirnwand zu seinem Gegenüber, auch die die Bogenfenster gefielen uns. Klar wurde: Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht die Sicherung des Gebäudes. Ein Video über die aufwendigen und schwierigen Arbeiten vermittelte uns davon einen Eindruck.

So verlebten wir einen schönen Tag, der allen gut gefallen hat.

Goethe und der Mond

Vortrag von Finn Sinnig, Gera, am 11. Januar 2023

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung 1. Goethe und der Mond: Forschergeist Goethes Wissen über den Mond – Goethe als Leiter der Jenaer Sternenwarte, einige seiner Beobachtungen und Erkenntnisse – Goethes Haltung zu astronomischen Instrumenten 2. Goethes dichterische Beschäftigung mit dem Mond in ausgewählten Werken, anhand einiger Beispiele -Gedichte -Briefe und Handschriften -weitere Beispiele aus Goethes Schriften zum Motiv Mond am Fallbeispiel Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust 3. Zusammenfassung -Zitate Nachweis -Bibliographie

Einleitung:

Goethes Haltung zur Astronomie war ambivalent, das heißt, dass er sie zwar würdigte, sich jedoch auch skeptisch dazu äußerte. Beispiele dazu bilden folgende zwei Zitate: „Die Astronomie ist mir deswegen so wert, weil sie die einzige aller Wissenschaften ist, die allgemein anerkannten, unbestreitbaren Basen ruht, mithin mit voller Sicherheit immer weiter durch die Unendlichkeit fortschreitet. Getrennt durch Länder und Meere teilen die Astronomen, diese geselligsten aller Einsiedler, sich ihre Elemente mit und können darauf wie auf Felsen fortbauen.“(1) Andererseits sagte er auch: „… weshalb ich mich denn auch nie mit Astronomie beschäftigt habe, weil hiebei die Sinne nicht mehr ausreichen, sondern weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muss, die ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache waren.“(2) Sein Interesse für die Astronomie galt hauptsächlich im Dichterischem. Für ihn sind die Dichtung und die Naturwissenschaft ein großes Ganzes. Dies spiegelt sich auch in seinem Interesse an den Mond wider. Außerdem hat er sogar eine Sternenwarte in Jena gegründet, im ehemaligen Garten von Schiller. Er hat sich viel mit Beobachtungen aus dem Weltall befasst, was er hauptsächlich mit einem Teleskop getan hat. Dennoch war immer skeptisch gegenüber Instrumenten wie dem Teleskop. Hier erwies sich Goethe wieder als „Augenmensch“, so wie er sich selbst einschätzte. Dies wird in einem weiteren Teil meiner Arbeit widergespiegelt.

1. Goethe und der Mond: Forschergeist:

– Goethes Wissen über den Mond

„Es war eine Zeit, wo man den Mond nur empfinden wollte, jetzt will man ihn sehen“, schrieb Goethe an Schiller am 10.4.1800. Goethe war vom Mond begeistert, sowohl wissenschaftlich, als auch dichterisch, wozu im nächsten Abschnitt die Rede sein wird. So las er zum Beispiel 1791 Tobias Mayers Mondbericht Opera inedita oder beobachtet vom 31.7.-15.9.1799 mit einem Teleskop den Mond. Dazu schrieb er in sein Tagebuch: „Machte ich mich mit den Monde, so viel es die Witterung zuließ, bekannt mit Hilfe des Auchischen Telescops und der Schröderischen Selentopographie (Mondkarte von Johann Hierozymus Schroeter: Selenotopographische Fragmente zur genaueren Kenntnis der Mondoberfläche-1791). Auch im Jahr 1799 stellt er im Entwurf der Farbenlehre einen Mondhof dar. In seinem Roman Wanderjahre, aus dem Jahr 1821 beobachtet der Protagonist Wilhelm angeblich Pflanzenwuchs und Bauwerke auf dem Mond mit einem Spiegelteleskop. Außerdem versucht die Figur Lebewesen auf dem Mond zu entdecken und glaubt daran, dass alle Sterne Lebewesen besitzen. Damit spielte Goethe an die zu dieser Zeit vorkommenden „Mondphantasien“ an, die zum Beispiel vom Münchner Astronom und Mondforscher Franz Paula von Gruithuisen verbreitet wurden. Dieser behauptete, dass er Spuren von Mondbewohnern und sogar einer Festung gefunden hätte. Goethe äußerte sich dazu verärgert: „Offenbare Irrtümer für bare Wahrheit ausgegeben zu sehen, sei das Schrecklichste, was einem Vernünftigen begegnen könne“(3), was von Kanzler Friedrich von Müller berichtet wurde. Ende 1825 führte Goethe ein angenehmes Gespräch mit Gruithuisen, dessen neues Werk Analekten für Erd- und Himmelskunde von Goethe gelesen wurde. „Höchst merkwürdig war mir vor einigen Wochen der Besuch von Herrn Professor Gruithuisen… Man nehme die älteren Mondkarten vor sich und sehe die Stufenfolge der Deutlichkeit bis in das Einzelne der Zeichnungen und lithographischen Blätter des genannten Freundes, so wird man freudig erstaunen und ihn gern erlauben, sich Vorstellungen zu machen, die ihm zu ferneren Streben Luft und Muth erneuen.“(4) Durch den Brief Gruithuisens an Goethe am 5.9.1825 veränderte Goethe seine Einstellung zu ihm, vermutlich, da er sein Werk mit Goethes Farbenlehre positiv verglich. In Goethes Werk Zahme Xenien VI von 1827 findet man die Worte wie „das Leben wohnt in jedem Sterne/ Er wandelt mit dem anderm gerne/ Die selbsterwähnte reine Bahn…“, was möglicherweise die „Mehrheit der Welten“ symbolisiert. Goethe äußerte sich mit „vorzüglich Gruithuisens Mondphantasien“. Damals kursierten mehrere Mondphantasien, beispielsweise als Traum; Mondreise, mit einer von Schwänen gezogenen Flugmaschine; Libretto der Oper Il mondo della luna, welche von Joseph Haydn 1777 komponiert wurde. Auch spielt Goethe in Faust II auf Ferdinand Adolfs Über Massen und Steine, die aus dem Mond gefallen sind aus dem Jahr 1804 an. Daraus folgt, dass der Mond nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch in der Literatur und Kunst der Goethezeit ein aktuelles und unterhaltsames Thema war.

– Goethe als Leiter der Jenaer Sternenwarte, einiger seiner Beobachtungen und Erkenntnisse

Der große Komet von 1811 motivierte Herzog Carl August zur Gründung der Jenaer Sternenwarte, in der Goethe später Oberaufseher werden sollte. Am Geburtstag des Herzogs, den 3.9.1813 wird die Einrichtung vollendet. Dabei wurden auch die ersten Beobachtungen einiger Fixsterne unternommen. Erster Direktor wurde Karl Heinrich Münchow (1778-1836). Zwischen 1809 und 1811 beschäftigte sich Goethe mit dem historischen Teil der Farbenlehre. Da sich Astronomen früher und intensiver mit der Augenlehre auseinandergesetzt haben, wurden viele von ihnen wie Kepler, Galilei, Herschel oder Dolland in der Farbenlehre erwähnt. Um sich optimal auf sein Amt als Oberaufseher vorzubereiten, studierte er verschiedene astronomische Werke aus der Weimarer Bibliothek, wie Keplers Ad Vitellionem paralipomena, Galileis Biographie, Newtons Opuscula mathematica, Fontenelles Crotretiens, Tobias Mayers Opera inedita, Kästners Geschichte der Mathematik und Zachs Monatliche Correspondenz. Nach seinem Amtsantritt sammelte er Handschriften und Briefe bekannter Astronomen, zum Beispiel von Bode, Bessel, Bürg, Olbers, Lalande, Harding, Herschel, Zach, Schumacher oder Gauß. Die Themen sind beispielsweise die Berechnung von Planetenbahnen, die Erscheinung von Kometen oder der Entwurf der Sternenwarte. Dadurch war er stets aktuell über die neue Wissenschaft der Astronomie informiert. Nach 1815 wurde die Sternenwarte durch bedeutende finanzielle Unterstützung des Großherzogs ausgebaut. Dadurch war sie für ihre Zeit instrumental gut ausgestattet. Für die Anfertigung und Reparatur der Instrumente war der Weimarer Hofmechanikus Johann Christoph Friedrich Körner (1778-1847) verantwortlich. 1817 unternahm er Glasschmelzversuche, welche in Briefwechseln zwischen Goethe und Carl August erwähnt wurden. Diese Versuche wurden später von seinem Schüler Carl Zeiss (1811-1888) erfolgreich weiterentwickelt. Anfang September 1828 beobachtete Goethe eine schöne Planetenkonstellation in Dornburg, wobei er sein ständiges Interesse an der Astronomie beweist. Leider konnte ich nichts dazu finden, wie Goethe Einfluss auf Beobachtungen der Jenaer Sternenwarte hinsichtlich des Mondes nahm.

– Goethes Haltung zu astronomischen Instrumenten

Aufschlussreich ist die Haltung Goethes zu astronomischen Instrumenten, obwohl diese im Hinblick auf Mondbeobachtungen kaum eine Rolle spielen. Dennoch möchte ich auf diesen Aspekt ein wenig eingehen. Goethe führt zwar Beobachtungen mit dem Teleskop durch, allerdings war er auch „allergisch“ gegenüber Brillen, Mikroskopen oder Fernrohren, da es ihn schmerzte, wenn man Licht durch ein Prisma zwängt. „Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn“(5). In Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre betrachtet Wilhelm den Jupiter und seine Monde durch ein Fernrohr. Durch diese Bilder fühlte er sich „eingeengt“ und „beängstigt“. Er zeigt zwar Verständnis für solche Instrumente, aber fuhr auch fort: „Aber erlauben Sie mir es auszusprechen, ich habe im Leben überhaupt und in Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unseren Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner inneren Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt… So oft ich durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir selbst nicht.“ (6) Hier wird Goethes Auffassung deutlich. In der Aufklärung galt das Teleskop als Instrument, was Menschen bescheiden macht, weil es ihnen zeigt, wie klein sie eigentlich sind. Jedoch wies Goethe auf ein Problem, dass dieses Instrument Menschen ermöglicht, andere Menschen zu beobachten, ohne dass sie es bemerken. Die Figur Wilhelm meinte in Wilhelm Meisters Wanderjahre auch, das optische Instrument mache den Menschen „arrogant“. In der Zeit Goethes erweiterte das Teleskop das Gesichtsfeld über den mit bloßen Augen sichtbaren Bereich hinweg. Deshalb kam die Frage auf, was man durch das Teleskop eigentlich sieht und wie man es interpretiert. Dies war kulturhistorisch relevant.

2. Goethes dichterische Beschäftigung mit dem Mond in ausgewählten Werken, anhand einiger Beispiele

– Gedichte

Goethe hat sich zum Mond in vielfacher Weise geäußert: In Briefen, in seinen Notizen seiner Italienreise in seinen Tag- und Jahres- Hefte, in seinen Tagebüchern, im Faustdrama, in römischen Elegien, in Chinesisch-deutschen Jahres-/Tageszeiten oder im West-östlichen Divan. Zu den wichtigsten Gedichten gehören: Jägers Abendlied, Um Mitternacht, An Luna, Nähe des Geliebten und Vollmondnacht. Während der Zeit als Goethe seinen Briefroman Leiden des jungen Werthers schrieb, war er von wilden und irren Gefühlen geplagt. Als er 1775 nach Weimar gezogen ist, versuchte seine Freundin, Charlotte von Stein, seine Gefühle zu zügeln und ihn somit zu mäßigen, da sonst seine Zukunft als Dichter bedroht gewesen wäre. Dies gelang ihr endlich, Goethe fand seine innere Ruhe. Dadurch hat sich auch sein Verhältnis zum Mond verändert. Erst war er kalt und gefühlslos, jetzt verglich er ihn mit Charlotte, in die er sich verliebt hatte. Jedoch waren beide unnahbar, er konnte sie zwar verehren, aber niemals umarmen. Trotzdem hat der Mond Goethe die nötige Entspannung gegeben, die er nach stressigen Tagen brauchte. Da seine Sehnsucht unerfüllt blieb, flüchtete er nach Italien. Ich möchte mich auf die zwei wesentlichen Gedichte beschränken: An den Mond und Dem aufgehenden Vollmonde. Bei den zwei Gedichten ist das allgemeine Thema romantische Sehnsucht.

An den Mond (1778)

Füllest wieder Busch und Thal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz Froh und trüber Zeit, Wandle zwischen Freud‘ und Schmerz In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluss! Nimmer werd‘ ich froh; So verrauschte Scherz und Kuß Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang, Ohne Rast und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu!

Wenn du in der Winternacht Wüthend überschwillst Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält, Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt, Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht.“

Da das Gedicht 1778 veröffentlicht wurden ist und die Natur thematisiert und sehr gefühlsbetont ist, wodurch es somit der Literaturepoche des Sturm und Drangs entstammt. Das lyrische Ich geht von Liebeskummer und Schmerz geplagt durch eine nächtliche Natur. Die Natur stellt den einzigen Freund des lyrischen Ichs da, vor allem verkörpert von dem Mond, welcher im Verlauf des Gedichts nur indirekt erwähnt wird. Durch die Betrachtung des Mondes findet die seelische Genesung des lyrischen Ichs statt. Der Mond dringt also in die seelischen Gefilde des Dichters ein. Der Blick des Mondes lindert den Schmerz wie das milde Auge eines Freundes. Es ist auch eine einsame und nächtliche Wanderung zwischen Freude und Schmerz. Unvermittelt kommt auch eine andere Naturerscheinung ins Spiel: der Fluss. Dem Fluss wie den Mond kommt die Liebe des lyrischen Ich zuteil. Voller Wehmut stellt sich die Erinnerung dieses Ichs an verlorenes dar: Scherz und Kuss und die Treue. Qualvoll erinnert sich das Ich an das köstliche, was es einst besaß und nimmer vergessen kann. Der Fluss fügt dem trauernden Gesang seine besänftigenden Melodien zu. Ohne Hass soll man sich vor der Welt verschließen, Seligkeit empfinden, wenn man einen wahren Freund gefunden hat. Mit ihm soll man das Leben genießen. In der letzten Strophe kommt das lyrische Ich auf das Problem zurück, dass erst das menschliche Dasein voller Widersprüche, voller Leid und Schmerz behaftet ist. Im Labyrinth der Brust irrt auch das Unbewusste umher, dass der Mensch auch nicht immer bedenken kann. Damit soll der Wert einer wahren Freundschaft dargestellt werden und das Gefühl der Einsamkeit vermitteln, welches durch das Fehlen eines solchen Freundes zustande kommt.

Dem aufgehenden Vollmonde (1828)

Willst du mich sogleich verlassen! Warst im Augenblick so nah! Dich umfinstern Wolkenmassen Und nun bist du gar nicht da.

Doch du fühlst wie ich betrübt bin, Blickt dein Rand herauf als Stern! Zeugest mir daß ich geliebt bin, Sei das Liebchen noch so fern.

So hinan denn! hell und heller, Reiner Bahn, in voller Pracht! Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller, Überselig ist die Nacht.“

Das Gedicht entstand 1828 nach dem Tod Goethes Freundes Großherzog Carl August. Goethe war dadurch sehr verzweifelt und zog sich deshalb zu den Dornburger Schlössern zurück, wo dieses Gedicht geschrieben wurde. Es entstand als Ausdruck seines Seelenschmerzes, seiner Trauer. Zugleich ist auch als Liebesnacht lesbar, da Marianne von Willemer am Werk West-östlicher Divan beteiligt war, in die Goethe verliebt war. Sie wollten sich in Betrachtung des Mondes aneinander erinnern, was etwa zeitgleich in Dornburg (Goethe) und Freiburg (Willemer) geschehen ist. Dieses Gedicht sollte an die Mondgespräche der Divanzeit erinnern. Der Anfang stellt einen Verzweiflungsmonolog des lyrischen Ichs dar. Jedoch verändert sich der Charakter im Verlauf des Gedichtes. Das Mondlicht triumphiert über die dunklen Wolken, wodurch das lyrische Ich seine Verzweiflung überwinden kann. Es findet auch ein Perspektivwechsel statt, vom lyrischen Ich zum „Du“, als Ansprache zum Mond, seinem Gefährten. Äußere und innere Zustände gehen ineinander über. Das Mondlicht übt eine besänftigende Wirkung, wodurch das lyrische Ich zur Ruhe kommt.

– Briefe und Handschriften

Goethe hatte sich auch in zahlreichen Briefen oder Handschriften über den Mond geäußert. So schrieb er beispielsweise am 17.7.1777 an Auguste Gräfin zu Stolberg:

Alles geben Götter die unendlichen Ihren Lieblingen ganz Alle Freuden die unendlichen Alle Schmerzen die unendlichen ganz.

So sang ich neulich als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg der vor meinem Garten durch die Wiesen fliest;…“ Auch in seinen Briefen an Charlotte von Stein schwärmte er immer wieder von seinen geliebten Mondnächten, wie vom 13.-17.9.1777 auf der Wartburg: „… Hieroben! Wenn ich Ihnen nur diesen Blick der mich nur kostet aufzustehn vom Stuhl hinüberseegnen könnte. In dem grausen linden Dämmer des Monds die tiefen Gründe, Wiesgen, Büsche, Wälder und Waldblösen, die Felsen Abgänge davor, und hinten die Wände, und wie der Schatten des Schlossbergs unten alles finster hält und drüben an den sachten Wänden sich noch anfasst wie die nackten Felsspizzen im Monde röthen und die lieblichen Auen und Thäler ferner hinunter, und das weite Thüringen hinterwärts im dämmer sich dem Himmel mischt…“, oder am 10. und 11.12.1777: „…Ich sagte: ich hab einen Wunsch auf den Vollmond! – Nun Liebste tret ich vor die Thüre hinaus da liegt der Brocken im hohen herrlichen Mondschein über den Fichten vor mir und ich war oben heut und habe auf dem Teufels Altar meinem Gott den liebsten Danck geopfert… Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit und heute Nacht bis früh war er im Mondschein sichtbaar und finster auch in der Morgendämmerung da ich aufbrach…“ Immer wieder schrieb er Charlotte von Stein Briefe über den Mond, so auch am 12.10.1780: „…Der Mond ist unendlich schön, Ich bin durch die neuen Wege gelaufen da sieht die Nacht himmlisch drein. Die Elfen sangen.

Um Mitternacht wenn die Menschen erst schlafen Dann scheinet uns der Mond Dann leuchtet uns der Stern, Wir wandlen und singen Und tanzen erst gern…“

Als Goethe 1786 seine Italienreise angetreten hat, konnte er es natürlich auch nicht vermeiden, nachts den Mond zu betrachten und darüber zu berichten, zum Beispiel am 2.2.1787: „Von der Schönheit im vollen Mondschein Rom zu durchgehen, hat man, ohne es gesehen zu haben, keinen Begriff. Alles Einzelne wird von den großen Massen des Lichts und Schattens verschlungen, und nur die größten allgemeinsten Bilder stellen sich dem Auge dar. Seit drei Tagen haben wir die hellsten und herrlichsten Nächte wohl und vollständig genossen. Einen vorzüglich schönen Anblick gewährt das Coliseo. Es wird Nachts zugeschlossen, ein Eremit wohnt darin an einem Kirchelchen, und Bettler nisten in den verfallenen Gewölben. Sie hatten auf flachem Boden ein Feuer angelegt, und eine stille Luft trieb den Rauch erst auf der Arena hin, daß der untere Theil der Ruinen bedeckt war und die ungeheuern Mauern oben drüber finster herausragten; wir standen am Gitter und sahen dem Phänomen zu, der Mond stand hoch und heiter. Nach und nach zog sich der Rauch durch die Wände, Lücken und Öffnungen, ihn beleuchtete der Mond wie ein Nebel. Der Anblick war köstlich. So muß man das Phantheon, das Capitol beleuchtet sehn, den Vorhof der Peterskirche und andere große Straßen und Plätze. Und so haben Sonne und Mond, eben wie der Menschengeist, hier ein ganz anderes Geschäft als anderer Orten, hier, wo ihrem Blick ungeheure und doch gebildete Massen entgegen stehn.“ (7) Goethe setzte seine Reise fort und berichtete über weitere bemerkenswerte Mondbeobachtungen, wie in Frascati, den 28.9.1787: „Ich bin hier sehr glücklich, es wird den ganzen Tag bis in die Nacht gezeichnet, gemahlt, getuscht, geklebt, Handwerk und Kunst recht ex professo getrieben… Abends werden die Villen im Mondschein besucht, und sogar im Dunkeln die frappantesten Motive nachgezeichnet…“ (8), oder auch im September 1787: „Besonders ist die Fülle der Mondscheinbilder über alle Begriffe, wo das einzeln Unterhaltende, vielleicht störend zu Nennende durchaus zurücktritt und nur die großen Massen von Licht und Schatten ungeheuer anmuthige , symmetrisch harmonische Riesenkörper dem Auge entgegentragen. Dagegen fehlte es denn auch Abends nicht an unterrichtender, oft aber auch neckischer Unterhaltung.“ (9) Als er im April 1788 wieder von Rom nach Weimar zurückkehren wollte, verabschiedete er sich mit den Worten: „Auf eine besonders feierliche Weise sollte jedoch mein Abschied aus Rom vorbereitet werden; drei Nächte vorher stand der volle Mond am klarsten Himmel, und ein Zauber, der sich dadurch über die ungeheure Stadt verbreitet, so oft empfunden, ward nun auf’s eindringlichste fühlbar…“ (10)

– weitere Beispiele aus Goethes Schriften zum Motiv Mond an den Fallbeispielen Wilhelm Meisters Wanderjahre und Faust

Auf Wikipedia habe ich eine namentlich nicht genannte Einschätzung zu diesem Thema gefunden, aus der ich gerne zitieren möchte. In Die Entsagenden/ Wilhelm Meisters Wanderjahre hat jede Person seine eigene Daseinsform, welche ein jeweils anderes charakteristisches Bild zeigt. Diese werden in zwei Gruppen eingeteilt: Der ersten Gruppe, welche die vom Schicksal verhafteten Form des Lebens verkörpert, steht die zweite Gruppe gegenüber, die von Planung und Entschluss getragene. Eine Figur fällt aus diesen Gruppierungen heraus: Makerie. Makerie ist weniger durch ihre Position in der gesellschaftlichen Welt definiert, als durch ihre Teilhabe am Weltall. Sie kennt das Sonnensystem nicht nur sehr gut, sie bewegt sich selbst innerhalb des Systems, mit einer festen Umlaufbahn, jenseits des Mondes. Allein schon diese kosmologische Größeneinordnung hat mein Interesse daran geweckt, einmal das gesamte Werk zu lesen. Sie ist die höchste Form der Steigerung. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern weiß sie bereits alles über das Universum. Sie ist eine sanfte Figur, das genaue Gegenteil Fausts. Goethe hat parallel zu Wilhelm Meisters Wanderjahren den Faust II geschrieben. Faust bezeichnet sein Studierzimmer Kerker, da dieses sehr klein, eng und staubig ist. In dieser bedrückenden Atmosphäre ist der Mond sein einziger Weggefährte. Durch diese depressive Stimmung sehnt sich Faust nach der lebendigen Natur. Diese wird sein Lehrmeister. Er fühlt ein Lebensglück in sich, das ihn glauben macht, dass er die Natur und ihre Geheimnisse verstehe. Faust ist der festen Überzeugung, gottähnlich zu sein, da er die „wirkende Natur“ vor seiner Seele, seinen Sinnen liegen sieht. Er glaubt, Eintritt in die Geisterwelt erhalten zu haben und folglich die Zusammenhänge des Kosmos zu verstehen, allerdings spricht ihm der Erdgeist diese Fähigkeiten ab. Faust sei nicht seinesgleichen, er würde die tiefsten Geheimnisse der Natur niemals ergründen können.

O sähst du, voller Mondenschein Zum letzenmal auf meine Pein, Den ich so manche Mitternacht An diesem Pult herangewacht: Dann über Büchern und Papier, Trübsel’ger Freund, erschienst du mir! Ach! Könnt ich doch auf Bergeshöhn In deinem lieben Lichte gehn, Um Bergeshöhle mit Geistern schweben, Auf Wiesen in deinem Dämmer weben, Von allem Wissensqualm entladen, In deinem Tau gesund mich baden!…

Der Mond verbirgt sein Licht Die Lampe schwindet! Es dampft! Es zucken rote Strahlen Mir um das Haupt-…“

Es finden sich jedoch auch weitere Mondhinweise in Goethes Faust, die ich hiermit anführe:

Und weiter: „Und steigt vor meinem Blick der reine Mond Besänftigend herüber, schwebe mir Von Felsen Wänden, aus dem feuchten Busch Der Vorwelt silberne gestalten auf Und lindern der Betrachtung strenge Lust“ (Faust I, Wald und Höhle / Faust)

Und schließlich: „Wie traurig steigt die unvollkommene Scheibe Des roten Monds mit später Glut heran.“ (Faust I, Walpurgisnacht / Mephisto)

Errät man wohl, Wonach du strebtest? Es war gewiss erhaben – kühn! Der du den Mond um so viel näher schwebtest, Dich zog wohl deine Sucht dahin?“ (Faust II, Hochgebirg / Mephisto)

Der Mond dient als Ausweg Fausts, er weckt in ihm die Sehnsucht des Monds als Begleiter in die Natur, in der er allen Wissensqualm entleeren kann, im Tau gesund sich badet. In der Natur erhofft sich Faust Zugang zu den Quellen zu erhalten, auf diese Weise erkunden zu können, was die Welt im Inneren zusammenhält. Da dies nicht gelingt muss er seinen Pakt mit dem Teufel schließen.

3. Zusammenfassung

Zusammenfassend kann man also sagen, dass sich Goethe kaum für Berechnungen oder Zahlen, sondern für die Schönheit des Sternenhimmels interessierte, mit dem Mond als Zentrum seines astronomischen Interesses. Außerdem bevorzugte er es, mit seinen eigenen Augen zu sehen und weniger mit astronomischen Instrumenten wie dem Teleskop. Auch kritisierte er von den zu seiner Zeit vorherrschenden Mondphantasien einiger Astronomen, welche meinten, beispielsweise Lebewesen oder Festungen auf dem Mond zu beobachten. Er meinte, dass durch die von ihnen benutzten Instrumente die menschlichen Sinne getäuscht werden und somit Dinge beobachteten, welche eigentlich nicht vorhanden sind. Jedoch waren und sind Instrumente für die Astronomie noch heute von enormer Bedeutung, um neue Erkenntnisse über das Universum oder unser Sonnensystem zu erlangen, obwohl sie das Sichtfeld des Menschen verändern. Goethe hatte also folglich eine eher altmodische Meinung zu diesem Aspekt, nach meiner Einschätzung. Dichterisch oder poetisch gesehen war der Mond ein Symbol der Liebe und Schönheit für Goethe, welches seine Fantasie anregte. Aus seinen Briefen oder dichterischen Werken wie Wilhelm Meisters Wanderjahre oder An den Mond wird deutlich wie Goethe die Schönheit des Mondes bewunderte und sie immer wieder mit seelischen Motiven verband. Gerade diese Naturbeobachtungen mäßigten seine Leidenschaften. Seine seelischen Enttäuschungen hoben ihn jedoch auch zu dichterischen Höhen empor. Es ist auch festzustellen, dass der Mond immer wieder das Gesicht der Person widerspiegelt, in die Goethe zu diesem Zeitpunkt verliebt ist, sei es Charlotte von Stein oder Marianne von Willemer. Dies ist meiner Meinung nach der Beweis, dass der Mond als Symbol der Liebe von Goethe interpretiert wird. Für ihn ist der Mond das, was für andere die Sonne ist, obwohl er auch die Sonne verehrte: Der Mond zeigte ihm die Schönheit der Natur, welches vor allem durch den Mondschein ersichtlich wurde.

– Zitate Nachweis

Die Briefstellen und Tagebucheinträge wurden zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe „An den Mond“, Verlag Elisabeth Petersen, München 1998 (1) Richard Dobel (Hrsg.): „Das Lexikon der Goethe-Zitate“, Albatros Verlag, Düsseldorf 2002, Astronomie Seite 31 (2) ebenda, Seite 31 (3) Aeka Ishihara: „Goethes Buch der Natur“, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, Seite 63 (4) ebenda, Seite 63 (5) ebenda, Seite 52 (6) ebenda, Seite 59 (7) nach Johann Wolfgang von Goethe: „An den Mond“, Elisabeth Petersen 1998, Seite 46 (8) ebenda, Seite 56 (9) ebenda, Seite 56 (10) ebenda, Seite 58

– Bibliographie

Dobel, Richard (Hrsg.): „Das Lexikon der Goethe-Zitate“, Albatros Verlag, Düsseldorf 2002 Goethe, Johann Wolfang von, in: „An den Mond“, Verlag Elisabeth Petersen, München 1998 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke in zehn Bänden, Band 1, KOMET MA – Service und Verlagsgesellschaft mbH, Köln Ishihara, Aeka: „Goethes Buch der Natur – Ein Beispiel der Rezeption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in der Literatur seiner Zeit“, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005

Des Menschen Glück ist ein eitler Traum – Fürst Charles Joseph de Ligne

Vortrag von Prof. Detlef Jena, Rockau, am 8. Februar 2023

Goethes Weimar begegnet dem Fürst Joseph de Ligne, dem fröhlichsten Mann des 18. Jahrhunderts“

Vortrag von Prof. Dr. Detlef Jena, Rockau, im Februar 2023

Mit dem Namen Fürst Charles Joseph de Ligne verbindet sich vor allem sein Ausspruch „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht voran“. 1735 in Brüssel geboren begann er seine, durch Geburt begünstigte Karriere am Wiener Hof der Habsburger, als ihn Maria Theresia 1751 zum Kammerherrn bestellte. Ligne wurde, war und blieb ein Mann des Krieges in den Diensten des Kaisers von Wien, dessen geniale militärische Fähigkeiten von hoher diplomatischer Kunst, relativ ausgefeiltem literarischen Stil und Fleiß sowie von einer geradezu brillanten Rolle als galanter Unterhalter in der höchsten Adelsgesellschaft, vor allem bei den Damen, begleitet wurden. Ein 34 gedruckte Bände zählender schriftlicher Nachlass an Biografien, Essays, Berichten, Reportagen, Korrespondenzen, dramatischen Stücken, Gedichten und Aphorismen legt Zeugnis von der Lebenswelt eines Mannes ab, die zwangsläufig auch Goethe berührte, zu der Goethe jedoch eine von eigenen Werten bestimmte innere Distanz wahrte.

Goethe nahm überhaupt erst Notiz von der Person de Ligne, nachdem dieser sich um 1794 aus dem aktiven Dienst als Feldmarschall im russischen und österreichischen Militär verabschiedet hatte und als Privatmann auf dem Wiener Kahlenberg lebte – sofern er nicht durch Europa reiste. Die beiden Männer begegneten sich sich zum ersten Mal 1807 in Karlsbad. Ihre direkten Berührungen währten nur bis zum Jahre 1812 und schlossen Besuche de Lignes in Weimar ein.

Beinahe hätten sie sich schon 1794 im Dessau-Wörlitzer Gartenreich getroffen. Zu den dienstlichen Pflichten Goethes gehörte nämlich die Begleitung des Herzogs Carl August auch bei dessen Reisen nach Dessau. Seit Jahrhunderten wurden dynastische Beziehungen gepflegt. Der 1740 geborene Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ließ in Wörlitz einen Landschaftspark nach englischem Vorbild gestalten.

Ligne nahm an mehreren Schlachten des Siebenjährigen Krieges teil. In den achtziger Jahren stand Russland im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Er begleitete Kaiser Joseph II. nach Russland und nahm 1787 an der legendären Reise Katharinas II. in die südrussischen Provinzen und auf die 1783 von Russland annektierte Krim teil, die den Auftakt zum nächsten Krieg gegen das Osmanische Reich bildete. Ligne fand das Vertrauen der russischen Kaiserin und ihres Günstlings, Fürst Potemkin. Die Mitverantwortung für das geflügelte Schmähwort von den „Potemkinschen Dörfern“ nahm man ihm offenbar nicht übel, zumal er mit seinen militärischen Fähigkeiten in den Krieg zur Eroberung Konstantinopels eingriff. Mit seiner Teilnahme am Türkenkrieg endete zugleich die aktive militätische Laufbahn. Sein Sohn fiel 1792 in der Champagne; Ligne hat diesen Verlust nie verkraften können. Er zog sich ins Privatleben zurck, widmete sich z. B. der Gartenkunst.

Die Kontakte zwischen Goethe und de Ligne nahmen ihren Anfang im böhmischen Teplitz, weil sich dort 1797 Weimars Herzog Carl August mit dem Fürsten de Ligne anfreundete – inmitten der europäischen Hocharistokratie. Ligne genoss dort das Leben in vollen Zügen, schwelgte in Erinnerungen an das Ancien regime mit seinem Freund Casanova. Ligne und Carl August empfanden in Teplitz 1797 sofort Sympathie füreinander. Mit sicherem Instinkt kombinierte Ligne, dass der Herzog und er gemeinsam mit Goethe und Wieland den Kern eines national-kulturellen Bundes bilden könne. Goethe zeigte sich indes reserviert. Doch Ligne lag viel daran, in den Kreis der Weimarer Dichter aufgenommen zu werden. Der Herzog sollte ihm dabei helfen. Er bat Carl August für seine Schrift über militärische, literarische und sentimentale Gegenstände neben Frankreich auch einen Verleger in Weimar zu finden. Der Herzog wollte sich die Sache vom Halse schaffen und beauftragte Goethe, beim Verleger Frommann in Jena nachzufragen. Doch alles geriet auf die lange Bank.Durch die letztendliche Absage ließ sich Ligne allerdings nicht entmutigen. Erst eine schöne Frau, Marianne von Eybenberg, brachte Goethe und Ligne näher. Sie verlangte, Goethe solle doch recht freundlich auf ein langes Gedicht de Lignes reagieren. Dies geschah.

Ligne hat bereits im Oktober 1808 in Teplitz einen Bericht über die berühmten historischen Begegnungen Kaiser Napoleons mit Goethe und Wieland auf dem Fürstentag in Erfurt und Weimar geschrieben. Er selbst hat an den Gesprächen nicht teilgenommen. Wahrscheinlich hat er hierzu Informationen aus Wien erhalten und eingearbeitet. Ligne hielt Goethe und Wieland für die größten literarischen und geistigen Größen ihrer Zeit – und Napoleon für die herausragende politische Persönlichkeit des Kontinents. Goethe, zu einem aristokratischen Frühstück eingeladen, fühlte sich hoch geehrt; Napoleon sprach mit ihm fast eine Stunden lang über Geschichte und Literatur, lobte insbesondere den „Werther“. Währenddessen provozierte Wieland keineswegs ein Gespräch mit Napoleon, er wurde zu ihm gerufen. Ligne freute sich, dass Wieland Napoleon ohne Unterwürfigkeit und sehr klug die Stirn geboten hatte.

Die langen freundschaftlichen Beziehungen zu Carl August zahlten sich aus. Nach Angaben Lignes wurden 1809/10 sowohl seine biografische Arbeit über den berühmten Heerführer Prinz Eugen als auch seine militärischen Schriften in Weimar auf Anweisung des Herzogs gedruckt.

Zurück zu Teplitz. Die Familie Clary verstand es, in ihrem Teplitzer Besitz mit all den vielen Gästen einen illustren Reigen zu organisieren, in dessen Zentrum natürlich die österreichische Kaiserin Maria Ludovica stand. Goethe widmete ihr eines seiner „Kaisergedichte“. Aber auch Ligne wird Ehrung zuteil. Goethe schreibt: „… Noch so viel Platz ist übrig, um von Prince de Ligne ein Wort zu sagen. Dieser ist in seinem 78. Jahre noch so Hof- und Weltmann, noch so heiter und leichtsinnig als jemals. Er belebt durch seine Anmuth jede Gesellschaft, in der er sich befindet.“

Goethe nante Ligne plötzlich seinen Freund! Tatsächlich vollzogen sich nach Lignes lobenden Worten für Goethes „Wahlverwandtschaften“ im Jahre 1811 Ereignisse, die die beiden Herren einander näher brachten, ohne die grundsätzlich verschiedenen Lebensansichten zu berühren oder gar aufzuheben.Vom 12. bis 17. Oktober 1811 besuchte Ligne Weimar, er und Goethe trafen sich mehrmals. De Lignes Buch „Nouveau recueil de Lettres du Feld-Marechal Prince de Ligne en reponse a celles qui ont ete addressee“ (hier ohne accent aigues geschrieben) erschien bei Bertuch. De Ligne wollte sich damit den Weimarer Dichtern als ebenbürtig erweisen.

Nachdem Napoleon im Frühjahr 1814 gestürzt worden war, vereinbarten die Alliierten mit der französischen Regierung im ersten Pariser Frieden, dass ein Kongress in Wien die neue europäische Ordnung aushandeln solle. Dazu wurden alle am Krieg beteiligten Staaten eingeladen, also auch das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.

Ligne sah mit Bangen, dass die preußisch-russischen Konflikte um den Besitz Sachsens und Polens den Kongress an den Rand des Scheiterns führen würde. Es drohte ein Krieg zwischen den Verbündeten. Diese Furcht veranlasste Ligne zu einem seiner legendären Sätze, mit denen er in die Geschichte eingegangen ist. Er schrieb an den französischen Außenminister Talleyrand: „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts“. Ligne informierte Talleyrand, dass er den russischen Zaren Alexander zur Mäßigung seiner Ansprüche geraten hätte, ansonsten würde er den Untergang Sachsens herbeiführen.

Es entsprach Lignes Mentalität, seinem Lebenssinn und der klaren Erkenntnis über die Krise des Kongresses, wenn er notiert: „Der Wiener Kongress hat inzwischen alle erdenklichen Festlichkeiten ausgekostet. Welches Schauspiel könnte ich ihm bieten, um ihm aus der Langeweile herauszuhelfen? Das Begräbnis eines Feldmarschalls!“

Bislang wren die Gespräche in Hinterzimmern und vereinzelt geführt worden. Ein solches Begräbnis hätte alle Akteure einmal zusammengeführt, um endlich zu allgemeinen Ergebnissen zu kommen. Es wäre Ligne nie im Traum eingefallen, bei einem solchen Begräbnis an sich selbst zu denken. Doch es geschah. Am 13. Dezember 1814 starb der Fürst.

Wie geschmeidig, umfassend, fröhlich oder traurig die ungezählten Erinnerungen an den Fürsten von Ligne auch der Nachwelt hinterlassen wurden – das Fragment eines Requiems Goethes, gewidmet dem „frohsten Manne des Jahrhunderts“ blieb nach Inhalt und Gestalt einzigartig.

Ein glühend Herz zagt nicht beim wilden Rauschen

Vortrag von Steffi Böttger, Leipzig, am 5. April 2023

Dem einen ist die Romantik der Inbegriff alles Schönen, dem anderen ein Gräuel. Der erste sagt, Romantik ist das große Zauberwort. Er hört das Rauschen der Wälder, das Raunen verborgener Brunnen, alle Stimmen der Nacht und die beglückende Musik des Alls.Anders der zweite: Romantik, sagt er, das ist Formlosigkeit und Unklarheit, Verworrenheit und Überschwang, Mangel an Zucht und Maß. Sie ist unheimlich und geradezu verdächtig. –

Zunächst einmal ist sie eine glänzende Epoche der deutschen Geistesgeschichte und Kunst: Caspar David Friedrich ist Romantik, Carl Maria von Weber und der junge Robert Schumann – Novalis sucht die Blaue Blume, Eichendorffs Taugenichts findet sein Glück, das er zuallererst als Anspruchslosigkeit definiert, und bei E.T.A. Hoffmann irrlichtern Gestalten aus den schlimmsten und komischsten Träumen durch die Welt. Namen wie Clemens Brentano, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist verbinden wir damit, ja und selbst der arme Hölderlin muss in unserer Vorstellung als Romantiker herhalten.

Kunst ist für die Romantiker Religion mit den Mitteln der Poesie.

Die Aufklärung hatte zwar Licht gebracht, aber so hell, so klar, so zergliedert, so statistisch aufbereitet wollte man es nun doch nicht im heimeligen Deutschland. Geheimnisse! Wieder lief man in den Städten zusammen, um Propheten zu lauschen, die den Weltuntergang oder den Messias ankündigten. Die Welt, so predigte die Aufklärung, ist transparent und kalkulierbar, vorhersehbar und planbar – nein, war die Antwort des Lesepublikums. Man fand immer mehr Gefallen am Rätselhaften. Man zweifelte am Fortschritt, denn der brachte Kälte, Industrialisierung oder gar Terror, wie das Beispiel der französischen Revolution zeigte, die vernünftig begonnen hatte.

Geheimnisvoll und wunderbar wollte man die Literatur. Phantasien über Geheimbünde und Komplotte erregten die Gemüter in einem Ausmaß, das uns bestens bekannt sein dürfte.

Was aber ist romantisch?

Zunächst einmal kommt der Begriff aus dem Französischen, romantique, und rührt vom, ja Roman ab, nämlich der Ritterdichtung.

Romantisch bedeutet auch: einfühlsam, Gefühle der Liebe und Wärme erzeugend – und eben: die Zeit der Romantik betreffend.

Was aber ist Romantik?

Auch da müssen wir wieder in die romanischen Sprachen, denn auf Schriften, die in der lingua romana verfasst wurden bezog er sich zunächst. Daraus wurde der Roman, im Französischen. Friedrich Schlegel machte aus romanisch dann romantisch. Und das bedeutete nichts anderes als die Abwehr der Antike und alles Klassischen und eine Hinwendung zur eigenen Kultur, die man am schönsten ausgeprägt im Mittelalter zu finden glaubte.

Die romantischen Autoren übrigens bezeichneten sich nie als „romantisch“, sondern eher als „moderne Autoren“.

Die „ganze Romantik“ zu beleuchten, ist hier nicht möglich; es seien denn die Anfänge, die „Frühromantik“, die „Erste romantische Schule“, der wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen, unter schnöder Vernachlässigung der sogenannten Heidelberger, Schwäbischen und Hochromantik.

Die Anfänge in Berlin und Jena, getragen von einer kleinen Gruppe von Dichtern, Literaturkritikern, Philosophen – und Frauen.

Zu berichten ist von einem Kreis junger Leute, von denen der älteste 37 Jahre alt war und der jüngste 20. Die Damen schwebten an der oberen Altersgrenze, aber eben kurz darunter.

Sie alle sind hier vorzustellen.

Da waren die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Der ältere August, gerade 30, Literaturhistoriker, Übersetzer, Schriftsteller und Indologe – Friedrich, von rhetorischem Überschwang, Enthusiasmus und intellektueller Wachheit, Mitte zwanzig, Philosoph und Literaturkritiker.

An ihrer Seite ihre Frauen, die beide bereits ein bewegtes Leben hinter sich hatten.

Caroline, die Frau Augusts, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, nun Schlegel, eine schöne, kapriziöse Frau, sprach fließend Englisch, schon Mitte der Dreißiger.

Dorothea, die Geliebte Friedrichs, geborene Mendelssohn, geschiedene Veit. Lebensgefährtin nur, noch nicht Gattin, das ist wichtig, ein Jahr jünger als Caroline.

Nebenfiguren, aber nicht minder wichtig und verehrt, waren der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, schon hoch in den Dreißigern; Ludwig Tieck, ein junger Dichter, und der Freiherr von Hardenberg aus dem nahen Weißenfels, besser bekannt als Novalis, zu dem man pilgerte.

Später kam Friedrich Wilhelm von Schelling hinzu, noch ganz jung an Jahren, Philosoph. Er sollte das schöpferische Ich als das einzig Reale zum Prinzip seiner Philosophie erheben – und später Schlegels Frau Caroline heiraten.

Junge Leute also, vielleicht der Gruppe 47 vergleichbar, die gegen die Moral, die Philosophie, die Literatur der Zeit revoltierten, den Buchmarkt erobern wollten und auch deshalb den Vätern Kälte, eisige Vernunft und Phantasielosigkeit vorwarfen, sich selbst als den Kern und Maßstab der Welt setzten.

Aber der Reihe nach.

Das Hauptquartier der Gruppe befand sich in Jena, von dem Alteingesessene als „Saal-Athen“ sprachen. August Wilhelm jedoch nannte es ein Lumpennest.

Der verehrte Schiller lehrte hier seit 1789, und seit 1794 hatte der Philosoph Fichte einen Lehrstuhl, von dem er aber wegen der Verbreitung atheistischer Ideen fünf Jahre später entfernt wurde; etwa 25 km entfernt lag Weimar, zu Fuß ein Spaziergang, zum angebeteten Goethe, zu Herder oder zu Wieland.

Also, im Juli 1796 kamen der Übersetzer August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline in Jena an. Die Dame hatte bereits ein aufsehenerregendes Leben hinter sich. Geboren als Tochter des berühmten Orientalisten Michaelis in Göttingen, verheiratet mit dem Arzt Böhmer, der bereits nach vierjähriger Ehe starb, von dem sie aber eine Tochter, Auguste, hatte, Inhaberin eines angedichteten Verhältnisses mit Georg Forster und wegen Verbindung zu den Jakobinern von den Preußen in Haft genommen, die sie 1793 zwei Monate in Königstein und Kronberg im Taunus verbrachte. In den Tagen der Mainzer Republik hatte sich Caroline, wie es in einer Biographie aus dem Jahre 1931 heißt: „ … in der leidenschaftlichen Erregung einer Ballnacht einem blutjungen französischen Offizier hingegeben. Es war ein Rausch – und wir wissen nichts von diesem Erlebnis.“ Nun, heute wissen wir mehr, der junge Mann trug den Namen Jean-Baptiste Dubios-Crancé. August Wilhelm, den sie aus Göttinger Tagen kannte, nahm sie nach ihrer Haftentlassung auf, brachte sie nach Leipzig, später nach Lucka, wo sie einen kleinen Sohn von Dubois-Crancé zur Welt brachte, der jedoch nach zwei Jahren starb.

Caroline blieb in Deutschland als „leichtfertige Person“, „dämonische Kreatur“ und Demokratin unerwünscht. Der Besuch ihrer Heimatstadt Göttingen wurde ihr verboten, und selbst die Residenzstadt Dresden durfte sie nicht betreten.

Auch aus finanziellen Gründen heiratete sie August Wilhelm 1796, und 1931 konnte man lesen: „Die tiefe Dankbarkeit Carolines für ihren Retter…war gewiss nicht das Einzige, was ihr Verhältnis zu ihm gestaltete.“

August Wilhelm selbst, nach einer Hauslehrerstelle in Amsterdam, war nun als Kritiker, Rezensent und Übersetzer tätig und erhielt 1798 eine Professur an der Universität in Jena.

Gut, die ersten Personen waren eingetroffen, aber es fehlten noch einige. Die folgten.

In Berlin lebte sein jüngerer Bruder Friedrich, Philosoph, Kritiker und Literaturhistoriker. Der schrieb seit einigen Jahren für die Zeitschrift Deutschlanddes wie er ebenfalls von der französischen Revolution begeisterten Johann Friedrich Reichardt. Das sicherte ihm seinen Lebensunterhalt.

In dieser Zeitschrift erschien 1796 aus seiner Feder eine scharfe Kritik der Gedichte Friedrich Schillers, für dessen Musenalmanach „Horen“ auch August Wilhelm ständiger Mitarbeiter war, und den Friedrich in seinen Studententagen eigentlich verehrte. Schiller antwortete mit einem Angriff in den „Xenien“, Friedrich attackierte daraufhin die „Horen“ – ein Jahr später war der Bruch Schlegel – Schiller perfekt. Später hieß es, Schiller habe angefangen, in den „Xenien“ sachte geplänkelt, Friedrich einen „kalten, unbescheidenen Witzling“ geheißen. Egal, man kann wohl einfach davon ausgehen, sie mochten sich nicht, und Schiller schrieb an August Wilhelm: „Es hat mir Vergnügen gemacht, Ihnen …zu einer Einnahme Gelegenheit zu geben, wie man sie nicht immer haben kann, da ich aber annehmen muss, dass mich Herr Friedrich Schlegel zu der nämlichen Zeit, da ich Ihnen diesen Vorteil verschaffe, öffentlich deswegen schilt,…, so werden Sie mich für die Zukunft entschuldigen. Und um Sie, einmal für allemal, von einem Verhältnis frei zu machen, das für eine offene Denkungsart und eine zarte Gesinnung notwendig lästig sein muß, so lassen Sie mich überhaupt die Verbindung abbrechen…“

Wir verehren und lieben Sie so aufrichtig, schrieb ihm daraufhin Caroline, daß diese grade und feste Gesinnung uns auch auf einen graden Weg führte, wenn noch so viele anscheinende Kollisionen da waren.“ Das war eine handfeste Lüge, denn sie mochte Schiller nicht und er die „Madame Luzifer“, wie er sie nannte, noch weniger.

Goethe hingegen mochte August Wilhelm, ließ sich seine Übersetzung von Shakespeares „Romeo und Julia“ sehr gefallen, urteilte: „ein sehr guter Kopf, lebhaft, tätig und gewandt. Die Gegenwart August Wilhelm Schlegels trägt nicht wenig dazu bei, die Gesellschaft in Jena lebhaft und unterhaltend zu machen.“ Parteinahme war nicht Goethes Sache, Streitigkeiten mochte er nicht, aber hier ließ er sich Zeit, um wenigstens den Frieden zwischen August Wilhelm und Schiller wieder herzustellen, so dass eine Zuarbeit für die Horen gesichert war.

Aber zurück zu Friedrich Schlegel, wir wollen doch die Gruppe endlich in Jena vereinigt sehen.

Nein, noch nicht, noch saß Friedrich in Berlin. Wie nebenbei erlernte er nicht nur verschiedene alte europäische Sprachen, sondern auch Sanskrit. Gerade hatte er Dorothea Veit kennengelernt. Im Salon von Henriette Herz.

Dorothea war die zweite Tochter von Fromet und Moses Mendelssohn (also die Tante von Felix Mendelssohn Bartholdy) und hieß eigentlich Brendel. Mit vierzehn wurde sie verlobt, mit achtzehn verheiratet. Der Gatte, Simon Veit, zehn Jahre älter. Gerade zwei Söhne von vieren überlebten ihre Kindheit.

Auch in ihrer Ehe gab es eine „Affaire“, mit einem jungen gutaussehenden Franzosen, Eduard d`Alton (selbst Goethe war von ihm bezaubert), in den auch ihre jüngere Schwester Henriette verliebt war. D´Alton reiste weiter, zurück blieb Dorothea, ungeliebt in ihrer kühlen und schalen Vernunftsehe, oder, wie Rahel Levin es ausdrückte: „Und nun wohin, mit dem entsetzlichen Vorrat, mit dem Apparat von Herz und Leben!“

Und da begegnete ihr nun eines Tages Friedrich Schlegel, schlank, noch, das Haar geschnitten, ungekräuselt und ungepudert (das zeigte seine republikanische Gesinnung), wechselhaft und polemisch. Sein Freund, der Theologe Schleiermacher beschrieb ihn als einen Mann, dem das Sanfte und Schöne wenig Eindruck machte, bei Frauen, er liebte große starke Züge. Da musste ihm die Veit schon auffallen, denn die war weder schön, noch sanft. Ihn also zog das Männlich-Starke an Dorothea an, sie liebte seine Mädchenhaftigkeit, seine femininen Züge, seine Kindlichkeit.

Zwei Jahre später ließ sie ihre Ehe mit Veit vor einem Rabbinatsgericht aufheben und verließ ihn mit ihrem jüngsten Sohn. Das war übrigens keine Seltenheit, viele der jüdischen Salondamen ließen sich im Ausgang des 19. Jahrhunderts scheiden – aber keine war eine Tochter Moses Mendelssohns.

Inzwischen aber arbeiteten August Wilhelm und Friedrich, noch räumlich getrennt, an ihrer Zeitschrift, dem „Athenäum“, einem ehrgeizigen Vorhaben, das das deutsche Geistesleben verändern sollte. Über zwei Jahre gingen Briefe und Sendungen mit Druckfahnen zur Korrektur, Berichte über die Arbeit zwischen Jena und Berlin hin und her. Erst sollte die Zeitschrift „Herkules“ heißen, später „Schlegeleum“ – man einigte sich auf „Athenäum“. Ein wildes Aufbegehren der Phantasie gegen die Vorherrschaft der Rationalität, eine Ohrfeige den zopfigen Vertretern der Spätaufklärung, die, das darf man nicht vergessen, den Buchmarkt beherrschten.

Ja, wie ging es nun weiter?

Dorothea saß allein in einer halbleeren Wohnung am Rande Berlins („Mein Mut hat etwas von der Spargelnatur an sich; je öfter er abgeschnitten wird, desto dicker wächst er.“), Friedrich bastelte am Athenäum, so gut allein sein konnte er nicht, aber Dorothea heiraten? „Uns bürgerlich zu verbinden, ist eigentlich nie unsere Absicht gewesen…“ – zumal sie nicht die einzige Frau in seinem Leben in Berlin war.

Er schrieb erst einmal die „Lucinde“, ein langatmiges, unleserliches Roman-Monstrum ohne Handlung, das aber von vielen Literaturwissenschaftlern sehr geschätzt wird, weil, wie Günter de Bruyn es ausdrückt, „es den interpretationslüsternen unter ihnen viele Möglichkeiten zu gelehrten Anmerkungen bietet.“ Friedrich verwertete darin sein Liebeserlebnis mit Dorothea, einer Frau, die Mann und Kinder verlässt, um in Libertinage mit einem Jüngeren zusammenzuleben.

Ein Skandal! Die Welt verurteilte den Roman und den Verfasser. Noch dreißig Jahre später überlegten Dresdner Damen, ob sie Schlegel empfangen dürfen.

Ein Ausbund der Schamlosigkeit, so hieß es, Lucinde ohne jene „fatalen Kleider“, die „Julius oft von der Geliebten gerissen“; Lucinde mit ihren „schwellenden Umrissen“, dem Gestammel in den Armen des Geliebten – jeder Eingeweihte sah die hingegossene Veit vor sich.

Und als Brentano zwei Freunden den Roman vorlas, äußerten die tiefe Abscheu gegen „Madame Veit, das gemeine, hässliche Judenweib“.

Die Arbeit am Athenäum drängte, August Wilhelm und Caroline wollten Friedrich endlich bei sich in Jena haben, und so schien es das Klügste zu sein, zunächst ihn und wenige Wochen später Dorothea aus dem Schussfeld in Berlin zu bringen.

Am 6.10.1799 – in Europa tobte der Zweite Koalitionskrieg Frankreichs gegen das Heilige Römische Reich (mit Ausnahme Preußens) – also am 6. Oktober kam Dorothea in Jena an, und da haben wir sie im Kern beisammen: die Clique. Die Romantiker.

Und jetzt wurde es lustig.

Im Döderleinschen-Haus am Löbdergraben wohnten im Parterre Dorothea mit ihrem Sohn Philipp, die Schlegels über ihnen und Friedrich oben im Dachgeschoß.

Das Haus existiert nicht mehr, heute findet man in der Straße eine Städtische Begegnungsstätte, eine Fahrradwerkstatt, mehrere Friseure und, jawohl, einen Büro- und Sprachenservice.

In der bereits zitierten Biographie von 1931, verfasst von der Philosophin Margarete Susman, liest man: „ In diesem Haus, in dem sich damals der ganze Romantikerkreis konzentrierte, lernte sie (Dorothea) erst das eigentliche romantische Leben kennen.“

Was aber war das „eigentliche romantische Leben“?

Der verehrte Ludwig Tieck erschien im Winter mit seiner Frau Amalie, der zwanzigjährige Clemens Brentano studierte (nach Bergwissenschaften) nun Medizin an der Universität Jena und war oft zu Gast, und mit dem aus dem nahen Weißenfels oft anreisenden Friedrich von Hardenberg waren nun endlich alle Protagonisten der Frühromantik in Jena versammelt.

Man schrieb tagsüber, gut, die Frauen mussten sich auch um die Haushalte kümmern, und am Gelde mangelte es an allen Ecken, aber am Abend fand man sich zu heiterer Geselligkeit, las vor, was man am Tage produziert, und was andere veröffentlicht hatten.

Schillers Glocke fand Zuhörer, die, wie Caroline ihrer Tochter schrieb, vor Lachen fast von den Stühlen gefallen sind. Und flugs wurde von August und Tieck eine Parodie ersonnen, die eine andere Institution der deutschen Literatur, nämlich Thomas Mann, „…unangebracht bis zur Schnödigkeit“ fand.

Kritik des Küsters

Wir Küster, würd´ger Herr, sind hoch erfreut,

Daß Sie so schön der Glocken Lob gesungen;

Es hat uns fast wie Festgeläut geklungen.

Nun haben Sie sich etwas weit zerstreut,

Und dabei doch den Hauptpunkt übergangen:

Die Klöpfel mein ich, die darinnen hangen.

Denn ohne Zung im Munde – mit Respekt

Zu sagen – müsste ja der Pfarrer selbst verstummen.

So, wenn kein Klöpfel in den Glocken steckt,

Wie sehr man auch am Seile zerrt und reckt,

Man bringt sie nicht zum Bimmeln oder Brummen.

Überhaupt hatten sie es auf den armen Schiller abgesehen: hier ein Epigramm mit dem Titel Gesicherte Unsterblichkeit:

So lang es Schwaben gibt in Schwaben

Wird Schiller stets Bewundrer haben.

Oder:

Wenn jemand „Schoße“ reimt auf „Rose“,

Auf „Menschen“ „wünschen“ und in Prose

Und Versen schillert: Freunde wißt:

Dass seine Heimat Schwaben ist.

Oder zum Erscheinen der Briefe Goethes und Schillers:

Gar schön grüßt Goethe Schillers liebe Frau;

Die Gute grüßt; sie grüßt und hört nicht auf zu grüßen,

Dreihundertsechzigmal! Ich zählt es ganz genau:

Vier Bogen füllt es an, der Käufer muss es büßen.

Den Gipfel der Parodienstreiche stellt wohl ihre Erwiderung auf Schillers Lob der Frauen dar:

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,

Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,

Flicken zerrissene Pantalons aus;

Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,

Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,

Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte

Findt am Zarten nicht Geschmack.

Zum gegorenen Gerstensafte

Raucht er immerfort Taback,

Brummt, wie Bären an der Kette,

Knufft die Kinder spat und fruh;

Und dem Weibchen, nachts im Bette,

Kehrt er gleich den Rücken zu.

Goethe, Goethe hingegen wurde verehrt. Natürlich kursiert die Geschichte, Tieck habe beim Besuch in Weimar, als Goethe zu einem Gespräche nicht bereit war, gefragt, was denn dann seine Besichtigung koste.

Dennoch, man liebte Goethe, und Rezensionen in den Athenäums-Nummern fielen stets jubelnd und geradezu marktschreierisch aus. Den Meister freute es, wenn er wieder einmal so vorzüglich und seinem Range entsprechend verstanden wurde. Und natürlich wurde das Leben in Jena um ein Vielfaches anregender. Zudem empfand es der alternde Dichter, dem es periodisch an Inspiration fehlte, motivierend, mit den jungen Leuten umzugehen (na gut, so jung waren sie alle nicht mehr, aber vom Impetus her schon). An seinen Freund Meyer, Kunscht-Meyer, schrieb er:

Denn freilich auf junge Leute müssen wir denken, mit denen man sich in Rapport und Harmonie setzen kannvon älteren ist nichts zu hoffen.

Doch zurück zu unserer leidigen Frage, wie lebte man denn nun „romantisch“? Aus den Briefen kann man ersehen, dass ständig Leute an- und abreisten. Man kann den Briefen auch entnehmen, woran man gerade arbeitete. Aber gibt es ein „romantisches“ Alltagsleben?

Bei Dorothea lesen wir:

Ja, lieber Freund, Sie sollten herkommen; wenn es so recht kunterbunt hergeht mit Witz und Philosophie und Kunstgesprächen und Herunterreißen. Dabei war es gerade für sie aus der großen Stadt Berlin in der doch recht kleinen thüringischen Stadt nicht einfach – Wachparaden, Schloss, Oper, breit angelegte Straßen und hohe Bürgerhäuser gab es hier nicht. Das Essen war anders – grüne Klöße, Bratwürste, Glitschkuchen, was aber gar nichts über die Qualität der Berliner Küche aussagt! – und der Dialekt! Weitestgehend unverständlich.

Caroline wurde da schon etwas konkreter. Da ist die Rede davon, dass sie täglich 15-18 Leute beköstigen müsse. Aber: meine Köchin ist gut, ich aufmerksam, und so geht alles aufs Beste. Bevor Gäste kommen, schrieb sie, muss man große Wäsche halten und Vorhänge aufstecken, bis zum lahm werden. Erlaubten es Haushalt und Kinder schrieben die beiden Frauen: Caroline half beim Übersetzen, Dorothea schrieb an ihrem Roman.

Jeder Spaß, der am Abend beim Wein ersonnen worden war, kam flugs in die nächste Nummer des Athenäums und wurde von Kollegen, Neidern und Gegnern gelesen. Natürlich konnte dies unziemliche Treiben nicht unbeobachtet bleiben. Jede Nummer des Athenäums, versehen mit Beiträgen befreundeter Kollegen, erregte größeres Aufsehen.

Im August 1800 erschien das letzte Heft des Athenäums, angegriffen von allen Seiten, aus Weimar von Schiller: „Egoistische und widerwärtige Ingredienzien“, und von Goethe „allgemeine Nichtigkeit“. Voss warnte vor dem: „litterarischen Freibeuternest, das sich in Jena eingenistet hat und vor dem Umgang mit dem nichtigen und niedrig handelnden Friedrich Schlegel“. Und selbst der alte Wieland im nahen Oßmannstedt resignierte: „Es sind grobe, aber witz- und sinnreiche Patrone, die sich alles erlauben, nichts zu verlieren haben, nicht wissen, was erröthen ist, und mit denen man sich beschmutzen würde, wenn man auch den Sieg über sie erhielte, welches doch beinahe unmöglich ist, da sie, auch geschlagen und niedergeworfen, gleich wieder aufstehen und es nur desto ärger machen würden.“

Selbst die tapfere, und doch einiges gewöhnte Caroline hatte mittlerweile solche Angst vor jenem öffentlichen Zetermordio, dass es ihr unmöglich war, die neue Lieferung des Athenäums aufzuschlagen. Kurz, es war ein entsetzlicher Krieg.

Dazu August Wilhelm: „Man haßt uns – gut! – man schimpft auf uns – desto besser! – man schlägt Kreuze vor uns wie vor Lästerern, Jakobinern, Sittenverderbern – Gott sey gepriesen! Das gelingt über alle Erwartung. Diese Kontensionen, in denen sich´s denn doch verräth, dass man sich leider vor uns fürchtet, unterhalten uns zwischen ernsten Arbeiten. So benimmt sich ein goldenes Zeitalter, sagen wir uns, dem sein Untergang angekündigt wird.“

Dem publizistischen Scharmützel folgten Prozesse und Prozessandrohungen, es kam zu weiteren Gerüchten aus dem Hinterhalt und zu amtlichen Vorgängen und Verlautbarungen, wie etwa dem Hannover Reskript vom September 1800, das namentlich dem Sittenverderber Friedrich Schlegel jeglichen Besuch Göttingens untersagte.

Wahrscheinlich hätte ein Kreis wie der am Löbdergraben solche Invektiven ausgehalten, wäre er im Kern gefestigt gewesen. Aber immer größere interne Spannungen, Intrigen und Eifersüchteleien begannen, die schöne Eintracht zu zerstören. Die schöne Eintracht, die es vielleicht so nie gegeben hatte.

Da war zunächst August Wilhelms Korrektheit, das Penible seines Wesens, der Hofmeisterton, der allen auf die Nerven ging. Da war Friedrichs Unfähigkeit, sich zu mäßigen, sein völlig unentwickelter Sinn für Praktisches und Geld (Herr Friedrich mit der leeren Tasche nannte ihn Brentano).

Novalis war inzwischen an seiner Tuberkulose gestorben, und Tieck, den man verehrte – dessen Frau Amalie, Malchen aber, wie Caroline es ausdrückte, missfiel, sie machte eine schlechte Figur, man hielt sie allenthalben für das Unbegreifliche an Tieck, kurz, Tieck fühlte sich nicht angenommen.

Es waren zuvörderst, man muss es leider sagen, die beiden Frauen, die dem herrlichen Miteinander ein Ende bereiteten.

Caroline verliebte sich in Schelling. Der, 12 Jahre jünger, fand nichts dabei, sie dem verehrten August Wilhelm abspenstig zu machen – wir erinnern uns: das Ich als Mittelpunkt der Welt.

Tieck, der glaubte, sein Arkadien in Jena gefunden zu haben, wurde in die Spannungen mit einbezogen:

Sonst macht Schelling der Schlegel die Cour, dass es in der ganzen Stadt einen Skandal gibt, die Veit dem Wilhelm Schlegel und so alles durcheinander. Friedrich ist allen mit der „Lucinde“ lächerlich … Es ist zu bedauern, dass diese Menschen von den göttlichen Anlagen zu wahren Affen durch die abgeschmackten Weiber werden, denn sei nur überzeugt, dass die Schlegel eigentlich die Ursach aller Zänkereien ist, in welche die beiden jetzt verfangen sind… Die Veit ist unbeschreiblich brutal…man könnte ordentlich juvenalisch über diese abgeschmackten Huren werden.“

Eiligst brach er auf, weg aus Jena, nach Hamburg, zu einem zehnjährigen unsteten Wanderleben.

Die sensiblen Schöngeister schlugen aufeinander ein, als seien sie soeben von der nächsten Baustelle entronnen. Die kleine Republik von Despoten, urteilte Dorothea, dieses Haus voller Originale, die sich immer zanken, wie kleine Buben.

Die Damen, so verschieden voneinander, entdeckten plötzlich einen Hass, als hätte es das vergangene Jahr nie gegeben.

Caroline, die ebenso wie Dorothea den philosophischen Diskursen nie ganz folgen konnte, an Novalis schrieb sie einmal: „Sie glauben nicht, wie wenig ich eigentlich von Eurem Wesen begreife, wie wenig ich eigentlich verstehe, was sie treiben“ – Caroline konnte dies stets besser überspielen als Dorothea, die nicht so recht klarkam mit den Begriffen, der es von jeher mangelte an jenem Selbstbewusstsein und jener Dreistigkeit, die nur schöne Frauen besitzen, und die auch die Religionsexperimente nicht nachvollziehen konnte.

Sie war empört, als sich Caroline Schelling zuwendete und erkannte, dass August Wilhelm wohl nie so geliebt wurde, wie es ihm zustünde. Zudem betrachteten sich auch Auguste, Carolines Tochter, mit Schelling als so gut wie verlobt – so ganz klar ist nicht, wer nun mit wem. Allen Schmutz, allen Klatsch, den die Tochter Moses Mendelssohns in Berlin als geschiedene Frau und Lucinde über sich ergehen lassen musste, häufte sie nun auf Caroline.

Hätte Wilhelm sich nicht vor Friedrich geschämt“, so schrieb sie an Schleiermacher, „so wäre zwischen den dreyen alles recht friedlich und aufgeklärt zugegangen, Caroline hätte heute einem, morgen dem anderen zugehört, und irgendein hübsches Stubenmädchen oder gar Auguste selbst, hätte die Ehe en quatre vollständig gemacht.“

Caroline, über Dorothea geifernd: „Wenn sie nur jemand totschlagen würde, ehe ich stürbe“, reiste Schelling nach, gemeinsam mit ihrer Tochter, schrieb verständnisfordernde Briefe an ihren Ehemann, die gar nicht nötig gewesen wären, hatte doch erstens ihre Ehe stets auf gegenseitiger Freiheit beruht, und befand sich doch August Wilhelm zweitens gerade mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Friederike Unzelmann, in Berlin.

Friedrich mischte sich ein, ohne Mandat, keiner hatte ihn zum Anwalt seines Bruders berufen: Caroline wolle doch nicht etwa mit beiden Männern… da starb Auguste, Carolines fünfzehnjährige Tochter an der Ruhr.

August Wilhelm liebte das letzte von Carolines Kindern über alles. Er hatte ihr Rechnen beigebracht, hatte ihr beim Griechischen geholfen – nun wurde er fast wahnsinnig bei der Nachricht. Alle am Löbdergraben liebten Auguste und entsetzten sich über ihren Tod.

Denken Sie sich“, aber teilte Dorothea Schleiermacher mit, „die gute Auguste musste zum Sühneopfer so viel fremder Schuld werden. Die Mutter … ist gefasster und gesunder, als es uns möglich schien. O diese Frau!“

Und im Frühjahr 1801, als Caroline in ein leeres Haus am Löbdergraben zurückkehrte, Friedrich und Dorothea hatten sich inzwischen eine andere Unterkunft gesucht, geriet das Ganze zu einem makabren Streit über zerbrochene Tassenhenkel, gesprungene Gläser und zerschlagenes Porzellan. Es fehlte ein Buch – Friedrich musste es entführt haben – das Klavier sei mit Flecken übersät und auf den Möbeln seien Kratzer.

Noch Jahre nach dem Gezänk, Caroline war schon tot, beharrte Dorothea immer noch darauf, Caroline habe damals nicht die Wahrheit gesagt, „Hausrath und Möbel seien nicht verdorben, alle Zimmer sauber und ordentlich!“

Aber, hatte Caroline gemeint, das läge eben an Dorotheas „starkem Mißgefühl ihrer Nationalität“ – also an ihrem Judentum – und mittlerweile genügte ihr einfaches Erschlagen nicht mehr. Nein, nun möge man Dorothea ersäufen.

In jenem Sommer 1801, nachdem mit dem Frieden von Lunéville für das Heilige Römische Reich der Zweite Koalitionskrieg beendet wurde und endlich in Europa der Weg für einen allgemeinen Frieden gebahnt schien, in jenem Sommer erlebte Jena den Exodus seiner fruchtbarsten und berühmtesten Gelehrtenköpfe: Novalis, der als Erster forderte: Die Welt muss romantisiert werden, war tot.

Friedrich und Dorothea zogen nach Paris. Einfacher wurde es nicht für sie mit ihm. Sie musste ihn mit Freundinnen teilen, wurde ins Vertrauen über seine Liebeshändel gezogen, er besuchte Gesellschaften, sie musste die Gläubiger hinhalten. Langweilig wurde es nie mit ihm, aber seine Kälte und Anmaßung setzten ihr zu. Dennoch heiratete man und trat gemeinsam zum katholischen Glauben über. Zunächst Publizist im Dienste der Habsburger, geisterte er noch auf dem Wiener Kongress als antipreußisches konservatives Schreckgespenst durch die Salons und propagierte mit größtem Eifer sein Ideal eines deutschen Ständestaates. Wirklich berühmt machten ihn erst seine Vorlesungen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Philosophie der Geschichte, und über die Jenaer Zeit meinte er: es sei einem damals ergangen wie immer, wenn das Blut und die ganze Lebenskraft zu sehr zu Kopfe steigen.

Ludwig Tieck, der „König der Romantik“, wie ihn Hebbel nannte, übersetzte in späteren Jahren, gemeinsam mit seiner Tochter Dorothea, die neben Spanisch auch Englisch und Griechisch vorzüglich lesen und sprechen konnte, die letzten Werke Shakespeares, in Dresden, auch ein Schlangennest, aber ein königliches, wurde er der Dichterfürst genannt – eine wahre Heimstatt jedoch konnte er nicht mehr finden.

August Wilhelm und Caroline trennten sich, und ließen sich mit der tätigen Beihilfe Goethes scheiden. Caroline heiratete Schelling, und wie die oben bereits zitierte Margarete Susman wusste: „Vom Augenblick ihrer Verbindung an Schelling herrscht in ihr vollkommene Ruhe. Jeder ihrer Briefe drückt diesen Frieden aus. In Leben und Arbeit mit ihm erblüht sie noch einmal zu ihrer letzten und doch überschwänglichsten Blüte.“

Clemens Brentano, eben 22-jährig, ging nach Göttingen zum Studium, wo er Achim von Arnim kennenlernte, mit dem er später eine vom Vorbild Jena geprägte ähnliche Wohn- und Arbeitsgemeinschaft bildete.

Als er, so notierte Gustav Schwab später Brentanos Erinnerungen, als Jenenser Student Tieck das erste Mal gesehen habe, hätte er vor Respekt geweint, und wenn die beiden Schlegel, Tiecken in der Mitte, über die Straße gegangen, wäre es ihm vorgekommen, als ob Gott der Vater von Gott dem Sohn und Gott dem heiligen Geist spazierengeführt würde.

Und August Wilhelm? Den ereilten verschiedene neue Leidenschaften. In Berlin verliebte er sich zunächst in die Schwester Tiecks, Sophie, die gerade mit dem Sprachwissenschaftler Bernhardi verheiratet war. Nach seiner Ablösung durch einen estnischen Gutsbesitzerssohn, wurde er Begleiter und Freund der Madame de Stael, Hauslehrer ihrer Kinder und bezog mit ihr Schloß Coppet, auf dem sie sozusagen unter Hausarrest lebte.

Mit dem Alter wuchs seine Eitelkeit und er wurde immer mehr zur Zielscheibe des Spottes.

Seine erstmalig 1797 erschienenen Übersetzungen der wichtigsten Werke Shakespeares gehören jedoch zum Revolutionärsten der Übersetzungsgeschichte. Anhand seiner Übersetzung des Sommernachtstraums und im Vergleich zu früheren Übersetzungen, ist nachzuvollziehen, worin das Epochale seiner Übersetzungen bestand.

Schon in früheren Jahren hatte er gemeinsam mit Gottfried August Bürger an einem Sommernachtstraum-Rudiment gearbeitet, und zwar im Geschmack seiner Zeit, nämlich in Alexandrinern, dem damals gültigen Versmaß hoher Dichtung.

In seiner eigenen Übersetzung gelang es ihm, auch im Gegensatz zur vier Jahrzehnte älteren Wielandschen Blankvers-Übersetzung, das Fremde als Fremdes anzuverwandeln zur Bereicherung des Eigenen, nämlich im Versmaß des Originals, verwandelt in die eigene Sprache – das stammt nicht von mir, es ist ein Zitat des wohl wichtigsten zeitgenössischen Shakespeare-Übersetzers, des 2020 verstorbenen Frank Günthers.

Andererseits aber, und hier tun sich Abgründe auf, meinte August Wilhelm in einem Brief an Tieck:

Ich hoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderm beweisen, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel!

Zwanzig Jahre später kam es abermals zu einer Zusammenarbeit mit Tieck: das Großprojekt der 1825 erstmals erschienenen Schlegel-Tieckschen-Shakespeare-Gesamtausgabe wurde in Angriff genommen. Wobei Tieck nicht selbst übersetzen durfte. Das besorgten seine Tochter Dorothea und Wolf Graf Baudissin.

Nicht einmal ein Jahr hatte die Gemeinschaft der Frühromantiker gehalten, und dennoch hatte sie enorme Ausstrahlung auf die weitere Entwicklung der Literatur, Malerei und später auch der Musik Europas. Eine Erfolgsgeschichte – trotz aller Missklänge und Irritationen. Geschmäht von den einen, zitiert, benutzt und weitergedacht von den anderen.

Maria Pawlowna – russische Zarentochter am Weimarer Hof

Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, Vortrag 27. September 2022

Maria Fjodorowna von Württemberg und Pawel Petrowitsch, sie hatten zehn Kinder, unter ihnen Maria Pawlowna.Bei den Heiratsverhandlungen ging es darum, den Titel Kaiserliche Hoheit und Großfürstn von Russland zu wahren. Die Verhandlungen zur Heirat von Maria Pawlowna und Carl Friedrich, dem Sohn von Herzog Carl August, zogen sich zwei Jahre hin. Alle Töchter des Zaren wurden übrigens in Herrscherhäuser Deutschlands oder der Niederlande verheiratet. Es ging um die dynastische Ausweitung des Zarenreiches nach Westeuropa hinein. Vermittler Wilhelm von Wolzogen reiste mehrfach nach Russland. Eine Million Rubel nebst einer Frau, nebst Juwelen und einen hohen Rang, schrieb sinngemäß-ironisch Königin Luise von Preußen hinsichtlich der Vorteile für den Thronfolger von Sachsen-Weimar-Eisenach. In der Tat. Eine Million Rubel floss in die klammen Weimarer Kassen, eine jährliche Apanage von 10000 Rubel, weitere geldliche Zuwendungen aus der Zarenfamilie, kostbare Geschenke. Nach dem Willen des Zaren sollte seine Schwester in jeder Lebenslage versorgt, finanziell gesichert sein. Dies bezog sich auch auf ihre Kinder. Maria Pawlowna durfte weiterhin ihrem russisch-orthodoxen Gluben anhängen, ihre Kinder sollten aber protestantisch erzogen werden. Carl Friedrich wurde aufgefordert, Russland für zwei Monate zu besuchen. Am 22. Juli 1804 wurden sie verheiratet. War auch nicht unbedingt Liebe im Spiel, so doch ein gegenseitiges Verständnis und Freundschaft.

Der Brautschatz, der in Weimar anrollte war beträchtlich: 79 Fuhrwerke, darunter allein sechs für Spiegel, eine orthodoxe Kapelle, eine komplette Küchenausstattung, Porzellan, Kleidung, Pelze (Zobel und Hermlin).

Goethe sollte eine Huldigung auf die neue Herrscherin schreiben, zeigte sich jedoch indisponiert. Schiller sprang ein. Innerhalb von neun Tagen schrieb er das Gedicht „Huldigung der Künste“.

Maria Pawlowna erwies sich als überaus kunstsinnig. Sie zeigte sich in Musik und bildender Kunst überaus bewandert. Sie brachte auch ein Klavier und ihre Harfe mit. Am 9. November 1804 wurde Schillers Huldigung aufgeführt. Von hiesigen Literaten kannte sie jedoch nur Schillers „Don Carlos“. Sie beherrschte Deutsch nur unvollkommen.

Im Hofprotokoll ist sie als Nr. 1 aufgeführt, aber nicht als Herzogin, sondern als Kaiserliche Hoheit und Großfürstin Maria Pawlowna nebst Gemahl. Carl Friedrich rangierte also hinter ihr. Die ‚Herzoginmutter hatte ihr ans Herz gelegt, die Dichter an den Hof zu bitten und deren Situation zu rezipieren. Doch sie kamen nicht immer dieser Aufforderung nach, mussten an ihren Werken arbeiten, hätten daher eine gewisse Zeit ihre Behausung zu hüten, was Maria Pawlowna verdross: Wie kann man sich dem Befehl der Regentschaft widersetzen. Und sie machte sich lustig über die Geistesgrößen. So urteilte sie sinngemäß, Goethe halte seinen Hut senkrecht vor den Bauch wie einen Blumentopf und Wieland hielte sie wegen seines Käppchens zunächst für einen Juden“.

Sie besuchte oft die Bibliothek, interessierte sich insbesondere für die Stammbuchsammlung. Sie wandte viel Geld auf, um weitere Stammbücher zu beschaffen. Diese Tätigkeit wird heute fortgesetzt. Sie besuchte Berlin, traf die Humboldts, die Brüder Grimm, in Leipzig den Maler Tischbein, in Weimar den preußischen Prinzen Ferdinand.

Ihre Hauptaufgabe war jedoch die Wohltätigkeit gegenüber Alten, Schwachen, Kindern. Ihre Fürsorge war jedoch darauf gerichtet, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Alexander empfiehlt ihr, der Kriegsläufte wegen zu emigrieren. Sie kommt dem Befehl ihres Bruders nach, emigriert ins dänische Schleswig. Sie blieb dort ein Jahr lang – gegen Napoleons Willen. Alexander will Napoleon in die Schranken weisen. Der Rheinbund wird nach Napoleons Siegen gegründet. Franz II. dankt 1806 als Kaiser ab, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist Geschichte. Die 4. Koalition gegen ein überlegenes französisches Heer wird gebildet.

In Weimar hat Herzogin Luise Napoleon gebeten, das Herzogtum bestehen zu lassen. Herzog Carl August muss 2,2 Millionen Francs Kriegstribution zahlen, Kriegsdienstverpflichtungen eingehen, demzufolge Landeskinder für das französische Heer rekrutieren.

Im September 1807 trifft Maria Pawlowna das zweite Mal in Weimar ein. Sie erwartet ihr zweites Kind, reist daher nach St. Petersburg. Doch der wahre Grund ist die wachsende Kriegsgefahr.

Doch 1812 bleibt sie endgültig in Weimar. Sie übernimmt wie ihre Schwestern außenpolitische Aufgaben, fungiert als diplomatischer Außenposten ihres Bruders. Er schickt sie nach Prag, Wien, Teplitz. Darüber schreibt sie in ihr Tagesbuch. Ihr Sohn Carl Alxander ist der einzige Mensch, der es lesen darf. Sie trifft Goethe in Teplitz, vergießt Tränen bei dieser Begegnung.

Carl August wechselt die Fronten, teilt dies in einem Brief an Alexander I. mit. Währenddessen ist Maria Pawlowna auf Reisen, erlebt in Frankfurt/Main die Krönung von Franz II. zum Österreichischen Kaiser.

Nach dem Wiener Kongress kehrt sie nach Weimar zurück, darf jetzt voll und ganz ihren Idealen frönen. Darin erfährt sie eine immer größere persönliche Befriedigung, trotz der vielen Pflichten.Sie unternimmt kunsthistorische Exkursionen, bringt Goethe schöne Dinge ihrer Reisen mit. Die Bevölkerung leidet große Armut. Sie holt Kinder von der Straße, beschafft ihnen Lehrstellen, sorgt für ihre christliche Erziehung. Und sie gründet das Patriotische Institut der Frauenvereine.Viele Außenstellen werden in Thüringen geschaffen.

Auch liest sie schon mal den „Werther“.Gegenüber Goethe hegte sie schon immer sehr viel Respekt. Bevor sie ihn traf, legte sie sich immer einen begrenzten Themenkreis zurecht. Goethe nimmt wachsend Anteil an ihrem Leben. Das kleine Fürstentum gab sich liberale Gesetze. Hier gab es die meisten Zeitschriften. In Jena ertönte laut der Ruf nach Freiheit. Maria Pawlowna fand das studentische Treiben in dieser Hinsicht nicht so gut. Die Karlsbader Beschlüsse setzten dem zunächst ein Ende.

Währenddessen kümmerte sich Maria Pawlowna auch um den Musiksektor, holte berühmte Leute nach Weimar wie Johann Nepomuk Hummel. Später kam Franz Liszt an die Ilm. Ihr Interesse galt ebenso der Park- und Landschaftsgestaltung. Sie mochte Bäume sehr gern. Die Alleen, bislang schattenlos, wurden nun bepflanzt. Sie gründete Baumschulen und Gartenbauschulen.

Carl Augusts Gemahlin Luise wurde nach der Erhebung des Landes zum Großherzogtum nun Großherzogin, Maria Pawlowna blieb Großfürstin. Sie widmete sich wie einst Anna Amalia dem kulturellen Sektor. Daher suchte sie immer donnerstags Goethe auf, um sich mit ihm zu beraten.Es blieben vertrauliche Gespräche. Von Goethe gibt es darüber keine Notizen. Doch aus ihrem Tagebuch geht beispielsweise ein wichtiges besprochenes Thema hervor: die Gründung einer Gewerbeschule.Es ging vornehmlich aum Baugewerke auf hohem fachlichem Niveau.

Sie ließ ein Lesemuseum im heutigen Nike-Tempel einrichten, wo man sich abonnieren konnte, um günstig die teuren Zeitschriften zu lesen. Goethe fand allerdings, dass dies den guten Geschmack verletzen würde.

Eine Woche vor seinem Tod trifft sie ihn das letzte Mal. Da sprachen sie wieder einmal über die Französische Revolution., tauschten literarische Neuigkeiten aus. Sein Tod traf sie auf sehr schmerzliche Weise.

1853 starb ihr Gemahl.Sie nahm Schloss Belvedere als ihren Witwensitz. Carl Alexander regierte im Geiste seines Vaters und Großvaters, Er übernahm den Auftrag seiner Mutter, Maria Pawlowna, die Wartburg zu restaurieren. Sie starb 1859 in Belvedere und ruht dort in geweihter russischer Erde.

Mehrtagesfahrt im September 2022

Fahrt mit der Goethegesellschaft vom 08.09.-11.09.2022
Gemeinsam mit den Freunden der Goethegesellschaft Erfurt fuhren die Geraer Mitglieder der
Goethegesellschaft am 08.September mit dem Bus nach Marburg.
Auf der Fahrt machte uns Bernd Kemter mit Schriften von Wieland bekannt.
Gegen 14.00 Uhr erreichten wir Marburg. Marburg ist die acht größte Stadt Hessens und ist
Universitätsstadt. Wir besuchten das Romantikerhaus in Marburg.
Dort hörten wir einen Vortrag über die Romantiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts.
Es war der Freundeskreis rund um Bettina und Clemens Brentano, die Grimms und Savignys, die in
Marburg die Epoche der Frühromantik prägten. Sie trafen sich im Salon, diskutierten, schrieben
Briefe, entwarfen neue Bilder von Liebe, Ehe und Freundschaft.
In den Ausstellungsräumen im Gebäude Markt 16 erzählte uns die Leiterin des Hauses im „Roten
Salon“ vom Leben der Marburger Romantiker und auch von den Romantikern des Jenaer Salons
der Romantiker – von den Gebrüder Schlegel, Novalis und Caroline Schlegel-Schelling.
In Marburg erfuhren wir auch einiges über das Leben der Heiligen Elisabeth. Elisabeth wurde
bereits als Kleinkind dem ältesten Sohn des Landgrafen Hermann von Thüringen versprochen. Den
Heiratsplänen lagen machtpolitische Erwägungen zu Grunde. Als sie ins heiratsfähige Alter
gekommen war, musste sie sich schlimme und unverhohlene Gehässigkeiten von den Verwandten,
Vasallen und Ratgebern ihres Verlobten und späteren Gemahls gefallen lassen. Diese drängten ihn
auf jede Weise, sie zu verstoßen und sie ihrem königlichen Vater zurückzuschicken. Es wurde
behauptet, sie habe eine weniger reiche Mitgift erhalten, als dem hohen Rang des Schwiegervaters
und des zukünftigen Schwiegersohnes entspreche. Aber Ludwig liebte Elisabeth und ihre Ehe war
glücklich. Er war seiner Ehefrau mit einer Treue und einem Feingefühl zugetan, die sich von den
Gepflogenheiten seiner Standesgenossen unterschieden. Bei den Mahlzeiten saß Elisabeth entgegen
den Konventionen ihrer Zeit neben ihrem Mann. Regelmäßig begleitete sie ihn auf seinen Reisen.
Aus der Ehe zwischen Elisabeth und Ludwig von Thüringen gingen drei Kinder hervor. Bereits
während ihrer Lebensjahre als Landesfürstin verrichtete Elisabeth im Dienst um Kranke und
Bedürftige schwere und damals als entwürdigend geltende Tätigkeiten. Sie spann Wolle und webte
mit ihren Dienerinnen daraus Tücher, die sie unter den Armen verteilte. Sie wusch und bekleidete
Verstorbene und sorgte für ihre Beerdigung. Ab dem Jahr 1226 half sie außerdem in dem Spital, das
sie am Fuß der Wartburg errichten ließ, persönlich bei der Pflege der Kranken und widmete sich
gezielt denen, deren Krankheiten besonders entstellend waren. 1227 hatte Ludwig das Gelübde
abgelegt, am Fünften Kreuzzug teilzunehmen und brach mit umfangreichem Gefolge auf. Die
schwangere Elisabeth begleitete ihren Mann noch bis zur Grenze Thüringens und nahm erst dort
von ihm Abschied. Ludwig zog über Hessen, Franken, Schwaben und Bayern nach Italien, um dort
mit dem Kreuzzugsheer von Kaiser Friedrich II. zusammenzutreffen. Am 12. September, kurz nach
der Einschiffung in Ortrantos, starb er an einer Infektion. Elisabeth verließ daraufhin, gemeinsam
mit ihren unmittelbaren Dienerinnen, die Wartburg. Der Priester Konrad von Marburg, ihr
Seelsorger, missbrauchte sein seelsorgerliches Amt gegenüber Elisabeth in grausamer Weise. Er
nahm ihr die Kinder weg und isolierte sie, indem er ihr ein Kontaktverbot zu ihren Freundinnen
befahl. Da Elisabeth sich durch Gelübde an ihn gebunden hatte, mochte sie sich nicht dagegen
wehren. Er peitschte sie aus und bespitzelte sie. Die Gesundheit der jungen Frau war dem nicht
lange gewachsen. Sie starb 1231 mit nur 24 Jahren. Elisabeth wurde in Marburg begraben und
deshalb gibt es in Marburg eine Elisabethkirche.

Wir fuhren an diesem Tag noch nach Wehrshausen, um dort zu übernachten.
Am nächsten Tag, am 09.September, fuhren wir nach Frankfurt am Main. Seit dem Mittelalter
gehört Frankfurt am Main zu den bedeutenden städtischen Zentren Deutschlands. Im Jahr 794
erstmals urkundlich erwähnt, war es seit 1372 Reichsstadt. Bis zum Ende des Heiligen Römischen
Reiches 1806 wurden die meisten deutschen Könige in Frankfurt am Main gewählt und seit 1562
auch die Kaiser gekrönt. Von 1815 an war die Freie Stadt Frankfurt Mitgliedsstaat des Deutschen
Bundes und zugleich dessen politisches Zentrum. Sie war Sitz der Bundesversammlung sowie
1848/49 der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt.
Wir besuchten zunächst die Paulskirche. Sie ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungs-
ort genutzter ehemaliger Kirchenbau. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann
Friedrich Christian Hess tagten 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter National-
versammlung, der ersten Volksvertretung für ganz Deutschland. Die Paulskirche gilt damit neben
dem Hambacher Schloss als Symbol der demokratischen Entwicklung Deutschlands. Aus dieser,
für die Paulskirche und die deutsche Demokratiegeschichte bedeutendsten Epoche, ist von der
Innenausstattung jedoch fast nichts mehr erhalten. Am 18.März 1944 brannte die Paulskirche nach
einem Luftangrifft aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1947/48 als erstes historisches
Gebäude Frankfurts mit Hilfe von Spenden aus allen deutschen Ländern äußerlich bis auf das
Kegeldach wieder aufgebaut. Im Inneren entstand, anstelle des früheren Kirchenraumes mit
Emporen, eine niedrige Wandelhalle mit darüberliegendem Versammlungsraum in Plenarsaal-
Bestuhlung. Der Innenraum wurde sehr schlicht gestaltet. Zum hundertsten Gedenktag der
Nationalversammlung wurde sie am 18. Mai 1948 als Haus aller Deutschen wiedereröffnet. Vom
31. März bis zum 3. April 1848 war die Kirche Versammlungsort des Vorparlaments, das die Wahl
zur Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung
zum ersten Mal zusammen. Am 28. März 1849 verabschiedete die Nationalversammlung eine
Verfassung für das deutsche Reich, die als Vorbild für die Verfassungen der Weimaer Republik und
der Bundesrepublik Deutschland diente. Die Abgeordneten boten dem preußischen König Friedrich
Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an. Er lehnte aber ab, weil er die Kaiserkrone nicht vom
Pöbel erhalten wollte. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Tafeln und Denkmäler an der
Außenfassade der Kirche angebracht, um an bedeutende Personen oder Ereignisse der deutschen
Geschichte zu erinnern. Neben dem Nordeingang der Paulskirche wurde 2002 eine Plakette des
deutschen Turnerbundes angebracht. Damit wird aus Anlass des 150. Todestages des Turnvaters
Jahn die historische Verbindung zwischen der Turnbewegung und der Nationalversammlung
geehrt. An der Südwestseite der Kirche folgen weitere Gedenktafeln für Carl Schurz sowie für den
Präsidenten der Nationalversammlung Heinrich von Gagern.
Bevor wir zum Romantikerhaus und zum Goethemuseum gingen, besuchten wir ein Café und
pünktlich 13.00 Uhr waren wir im Romantikerhaus. Das Deutsche Romantik-Museum präsentiert
einzigartige Originale mit neuen modernen Ausstellungsformen, die die Zeit der Romantik
erfahrbar machen. Es ist weltweit das erste Museum, das sich der Epoche der Romantik als Ganzes
widmet. Im Dialog mit dem benachbarten Goethe-Haus sind Manuskripte, Graphik, Gemälde und
Gebrauchsgegenstände zu sehen. Das Deutsche Romantik-Museum bietet eine multimediale – im
romantischen Sinn synästhetische – Umsetzung von Ideen, Werken und Personenkonstellationen.

Das Goethe-Haus im Großen Hirschgraben war bis 1795 der Wohnsitz der Familie Goethe. „Mit
dem Glockenschlage zwölf“, wie Johann Wolfgang Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ berichtete,
kam er am 28. August 1749 zur Welt und verbrachte hier seine Jugendjahre.
1795 verkaufte Goethes Mutter das Haus.
Nach der Kriegszerstörung am 22.03.1944 wurde das Elternhaus Goethes wiederaufgebaut und mit
den erhalten gebliebenen alten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Das Goethe-Haus ist typisch
für die bürgerliche Wohnkultur im Spätbarock und lohnt einen Besuch nicht nur wegen seines
berühmten Bewohners. Der Besuch bietet einen interessanten Einblick in den Lebensstil des 18.
Jahrhunderts. Zwar entspricht die Einrichtung nicht mehr dem Original, aber man hat versucht, die
einzelnen Zimmer möglichst originalgetreu wieder herzurichten. Goethes Studierzimmer im
zweiten Obergeschoss ist ausgestattet, wie es einst war. Hier schuf der Meister den „Götz von
Berlichingen“, den „Urfaust“ und „Die Leiden des jungen Werther“. Das Goethe-Haus ist im Besitz
der Stiftung Freies Deutsches Hochstift, die auch das mit dem Goethe-Haus verbundene Goethe-
Museum betreibt. Wir besichtigten die Staatszimmer im ersten Stock, das Musikzimmer, die
Bibliothek des Vaters, das Studierzimmer im zweiten Stock und das Geburtszimmer des
Dichterfürsten mit der Taufanzeige.
Nach der Besichtigung des Goethemuseums fuhren wir nach Aschaffenburg und übernachteten im
„Goldenen Ochsen“. Nachdem wir unsere Zimmer im Hotel bezogen hatten, wanderten wir
gemeinsam zur Gaststätte „Fegerer“. Gemeint ist der Schornsteinfeger. Wir liefen vorbei am
Schloss, hatten einen wunderschönen Blick vom Schlossberg aus auf den Main und freuten uns
schon jetzt auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im Garten der Gastwirtschaft nahmen wir unser
Abendbrot ein. Nach dem Abendbrot gönnten wir uns noch einer Stunde eines gemütlichen
Beisammenseins uns wanderten danach gemeinsam zurück zu unserem Hotel.
Am nächsten Tag, am 10.September, fuhren wir nach Miltenberg. Miltenberg liegt zwischen dem
Odenwald und dem Spessart. Die Stadt liegt am Main und wir hatten eine Schiffstour auf den Main
gebucht und zwar eine Kurzfahrt von Miltenberg nach Freudenberg. Auf der Fahrt bewunderten wir
die Buntsandsteinfelsen, sahen Schwäne, Graureiher, Kormorane und zahlreiche Enten. Schön war
auch der Anblick der Burg Freudenberg. In der sehr gut erhaltenen Burg finden im Sommer
Aufführungen statt. Bestimmt hat man von der Burg aus einen fantastischen Ausblick auf
Freudenberg und den Main. Auch die Buntsandsteinfelsen bieten einen schönen Anblick. Der
Buntsandstein aus den umgebenden Bergen war bei Baumeistern sehr gefragt, zumal sich dieser auf
dem Main leicht verschiffen ließ. Am Mainufer sind auch die Weinberge zu sehen. Zu Zeiten der
Römer verlief hier der Limes. Der Main ersetzte Palisaden und Wälle. Der Main bildete einen
„nassen Limes“. Der Fluss diente genauso wie heute dem Transport, der Fischerei und dem
Holzwirtschaft. Mit den Römern kam auch der Weinbau ins Land. Nach der Schiffstour besichtigen
wir Miltenberg. Die Stadt Miltenberg entwickelte sich seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Schutze
der Mildenburg. Die prachtvollen Fachwerkbauten in der Altstadt sind sehenswert. Erhalten ist auch
ein großer Teil der alten Stadtmauer und ihrer Wehrtürme.
Mit dem Bus fuhren wir nach Aschaffenburg zurück. Aschaffenburg liegt an der Nordwestecke des
Mainvierecks an der Mündung der Aschaff in den Main und am Westrand des Spessarts. Der
Erzbischhof und Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg, residierte anfangs in Halle und
verlegte 1541 infolge der Reformation seine Residenz nach Aschaffenburg. In Aschaffenburg

befinden sich das Stadttheater, das unter Großherzog Karl Theodor von Dalberg 1811 erbaut
wurde.
Am Nachmittag dieses 10. Septembers besichtigten wir das Museum der Stiftskirche. Gezeigt
werden archäologische Funde von der Jungsteinzeit, der Römerzeit und des Mittelalters.
Erwähnenswert ist die beachtliche Sammlung römischer Funde aus den Limeskastellen am
Untermain mit einem eingerichteten Lapidarium. Präsentiert werden auch reiche Bodenfunde aus
alemannischen und fränkischen Reihengräbern des 6. bis 8. Jahrhunderts. Bedeutend ist ebenfalls
der mittelalterliche Staatsschatz mit wertvollen Objekten aus Silber, Gold und Bergkristall.
Wir bewunderten die Rekonstruktion des Magdalenenaltars aus der Werkstatt Lucas Cranach des
Älteren (Stiftsschatz). Die Altartafeln stammen aus dem Mainzer Domschatz St. Martin. Der Patron
des Bistums Mainz ist in kostbare, perlenbesetzte bischhöflichen Gewänder gehüllt. Der Kontrast
zu der armseligen Gestalt des verkrüppelten Bettlers ist recht groß. Der Bischof wirft dem Bettler
ein Almosen in die Schale und blickt dabei über den armen Bettler hinweg.
In der Stiftskirche befindet sich noch heute das prachtvolle Bronzegrabmal Albrechts von
Brandenburg, das Albrecht sich von dem berühmten Nürnberger Bildhauer und Erzgießer Peter
Vicher dem Jüngeren anfertigen ließ.
Bedeutend sind auch die erhaltenen historischen Räume des Stifts: der Kapitalsaal des 12./13.
Jahrhunderts, der „Gotische Saal“ (13. Jahrhundert), der „Paramentenraum“ mit einer farbigen
Stuckdecke aus dem Jahr 1723 sowie der ehemalige Stiftskarzer, das Kanonikerzimmer und der
neue Kapitelsaal, in dem Teile der originalen Ausstattung aus der Zeit um 1620 zu sehen sind.
Albrecht von Brandenburg wirkte in Aschaffenburg als Mäzen bildender Künstler, wobei er
besonders Lucas Cranach den Älteren umfangreich mit Aufträgen bedachte. Aus Brandenburg
brachte er viele seiner der Kirche gestifteten Kunstschätze mit. So wechselten mehrere Cranach-
Bilder und ein Reliquien-Kalender, in welchem zu jedem Tagesheiligen eine seiner Reliquien
gesammelt wurde, in den Besitz der Stiftskirche. Aus seiner neuen Residenz führte Albrecht auch
den berühmten Schriftwechsel mit Martin Luther zum Ablasshandel.
Im Anschluss an die Besichtigung des Stiftmuseums besuchen wir die „Stiftskirche St. Peter und
Alexander“. Die Stiftskirche war ein Teil eines Stifts, dessen Gründung auf den Herzog Liudolf
von Schwaben im10. Jahrhundert zurückgeht. 1814 wurde Aschaffenburg bayrisch und gehört zum
Bistum Würzburg. 1958 erhob der Papst Pius XII.das Gotteshaus zur Basilika. Im Jahr 1516 gaben
die Stiftsherren von St.Peter und Alexander bei Mathis, dem Maler, der später als Matthias
Grünewald berühmt geworden ist, Altarbilder in Auftrag. Grünewalds „Beweinung Christi“ ist ein
Meisterwerk. In fahler Todesfarbe stellt Grünewald den gemarterten Leichnam mit der Dornenkrone
dar. Parallel zum Haupt Christi sind die in Verzweiflung gerungenen Hände Marias zu sehen. Zu
Füßen von Jesus Christ sitzt Maria Magdalena, die das Leid Marias teilt. „Die Beweinung Christi“
zählt zu den herausragenden Kunstwerken der Renaissance in Deutschland. Sehenswert sind auch
der wunderschöne Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert, das ottonische Kruzifix aus dem 10. Jahr-
hundert und der „Maria-Schnee-Altar“.
17.30 Uhr gingen wir gemeinsam zur Gaststätte Fegerer“. Heute war es regnerisch, deshalb wurden
wir im Keller der Gasstätte untergebracht.

Für den Abend war ein Kabarettbesuch gebucht. Vince Ebert trat als Alleinunterhalter auf und
verglich die Deutschen und die Amerikaner miteinander. Nach der Pause machte er mit witzigen
Bemerkungen den Zuschauern den Unterschied zwischen Männern und Frauen klar.
An unserem Abreisetag, dem 11.September, trafen wir uns früh um 8.00 Uhr, um das Pompejanum
zu sehen. Wir liefen durch den Schlossgarten, der von Friedrich Ludwig Schell angelegt wurde und
sich vom Schloss Johannisburg bis zum Pompejanum erstreckt. Wir bewunderten den
wunderschönen Arkadengang, den Blick auf den Main und den herrlichen Fernblick. Auf dem
kurzen Spaziergang kamen wir auch an dem Frühstückstempel vorbei.
Wir wussten, dass wir um diese Zeit das Pompejanum noch nicht besichtigen konnten, aber nach
dem Frühstück war das Pompejanum geöffnet. Wir wanderten also noch einmal zu dem reizvollen
Nachbau eines römischen Hauses, das sich auf dem Weinberg über dem Main erhebt und auf
Veranlassung Ludwigs I. vom Architekt Friedrich von Gärtner geschaffen wurde. Angeregt durch
die Ausgrabungen in Pompeji ließ König Ludwig I. diese ideale Nachbildung eines römischen
Wohnhauses von 1840 bis 1848 bauen, nicht als Villa für sich selbst, sondern als Anschauungs-
objekt, das Kunstbegeisterten auch hierzulande das Studium der antiken Kultur ermöglichen sollte.
Um zwei Innenhöfe, das Atrium mit seinem Wasserbecken und das begrünte Viridarium im
rückwärtigen Hausteil, sind im Erdgeschoss die Empfangs- und Gästezimmer, die Küche und die
Speisezimmer angeordnet. Für die prachtvolle Ausmalung der Innenräume und die Mosaikfußböden
wurden antike Vorbilder kopiert oder nachempfunden.
Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, konnte das Pompejanum seit 1960 in mehreren Phasen
wieder restauriert und vervollständigt werden. Seit 1994 sind hier nun zusätzlich originale römische
Kunstwerke aus den Beständen der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in
München zu sehen. Neben römischen Marmorskulpturen, Kleinbronzen und Gläsern zählen zwei
Götterthrone aus Marmor zu den wertvollsten Ausstellungsstücken. Zusätzlich finden jährlich
wechselnde Sonderausstellungen zu archäologischen Themen statt. Um das Pompejanum erstreckt
sich eine kleine, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Gartenpartie. Hier sollte eine
»mediterrane Ideallandschaft« entstehen. Wärmeliebende Gehölze wie Feigen, Araucarien,
Mandelbäume, Wein, Säulenpappeln und Kiefern prägen zum Großteil noch heute das Bild dieses
südländisch anmutenden Gartens.
Nach der Besichtigung des Pompejanums war ein Frühschoppen geplant. Wir saßen noch einmal
gemütlich beisammen, unterhielten uns bei Bier oder Wein über all das Erlebte dieser Reise.und
dankten Angelika und Bernd Kemter für die große Mühe, die sie sich mit der Organisation dieser
Fahrt gemacht hatten.
Auf der Heimfahrt las uns Bernd Kemter wieder Gedichte von Wieland vor. Dann bedankten wir
uns bei unserem Fahrer Klaus. Er hat uns hervorragend kutschiert, durch enge Gassen der
verschiedenen Städte geschleust und er verstand es auch, einem Fahrern auszuweichen, der uns
unsachgemäß von rechts überholte.
Die Fahrt hat uns allen viel gegeben. Wir haben viel gesehen und auch viel gelernt.
Unser Dank gilt vor allem Angelika und Bernd Kemter, die uns auf der ganzen Reise hervorragende
Führer waren und auch durch ihr Wissen beeindruckt haben.

Wir hoffen, dass wir noch viele schöne Fahrten mit der Goethegesellschaft erleben können.

Erika Seidenbecher

Beinahe beste Freunde – Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe

Vortrag von Dr. Dieter Strauss, Offenbach, am 4. Mai 2022

„Alexander nötigt uns zur Naturwissenschaft“. Dieses Lob stellt das wichtigste Verhältnis zwischen Goethe und Alexander von Humboldt ins Licht. Im März 1794 besuchte der Dichter in Jena die beiden Brüder Alexander und Wilhelm, der wiederum mit Friedrich Schiller befreundet war. Aus dem Zusammentreffen dieser vier Geistesgrößen entstand die „Kleine Akademie“; ein reger Gedankenaustausch insbesondere zu naturwissenschaftlichen Fragen.

1799 bis 1804 unternahm Alexander von Humboldt seine Südamerika-Reise. Goethe hat diese Unternehmung leidenschaftlich verfolgt, alles über sie gelesen. Humboldt erkletterte den Chimborazo in Ecuador. Er gelangte im Urwald bis an die Grenze Brasiliens, das er nicht betreten durfte. Er musste sich auf die Westküste der spanischen Kolonien bis Lima beschränken. Doch durch diese Reise wurde er gewissermaßen ein Weltstar, gemäß „Faust“ (Manto in der Klassischen Walpurgisnacht): „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt!“ Hier wäre auch die große Brasilien-Expedition des Georg Heinrich von Langsdorff zu nennen, der dieses Land zwischen 1822 und 1829 bereist hat. Bei Strauss‘ Remake in den 90-ern waren wie bei Langsdorff Künstler dabei, die ihre Eindrücke in Zeichnungen und Installationen festgehalten haben. Humboldt kam 1829 auch nach Russland, bis an die mongolische Grenze.

Zurück zu Südamerika. Er reiste auch durch Venezuela, östlich von Caracas: „Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde.“ Es ging ihm nur um Erkenntnis, nicht um Geld und Gold. Humboldt hat seine Forschungsreise selbst finanziert, nur für die Russlandreise kam Zar Alexander auf. Humboldt reiste auf dem Amazonas und dem Rio Negro. Er wollte experimentieren und fragen, fühlen und schmecken. Beispiel: Die Indios konnen 15 Baumrinden-Arten mit verbundenen Augen auseinander halten. Sein Credo gemäß „Faust“:

Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Es sollen aber auch poetisch-künstlerische Darstellungen zu ihrem Recht kommen. So sieht Goethe den Alexander von Humboldt als einen Augenmenschen mit Gefühl.

Humboldt gelangt in Einbäumen bis zum Amazonas, muss aber abbrechen. Er besucht Kuba, den Nordwesten Südamerikas, Mexiko bis Washington, weilt zu Besuch beim US-amerikanischen Präsidenten Jefferson. Er folgt im Juni 1799 dem Ruf des spanischen Königs nach Teneriffa, besteigt dort den Vulkan Teide. Er ahnt schon: Alles ist in Bewegung, alles hängt ab vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit. Wenn nicht gottgegeben, bleibt die Erde gottentvölkert und der Himmel leer. Er verurteilt die Sklaverei als Schande und Unfug. Er kauft zwei Sklaven und lässt sie frei. Er bricht zum Orinoco und Rio Negro in Richtung Amazonas auf. Auch besuchte er die Curacao-Hato-Höhlen in der Karibik, die entflohenen Sklaven als Zufluchtsort dienten. Dort beobachtete er Vögel und Eulen. Den Indios gelten die Höhlen als Ort der Seelen ihrer Vorfahren, und Humboldt respektierte dies. Er besuchte die fruchtbaren Aragua-Täler und den Valenciasee in Venezuela. Dort kommt er zu dem Schluss, dass die Zerstörung der Urwälder durch die europäischen Ansiedler die Quellen versiegen lässt; zumindest nehmen sie stark ab. Er ahnt den Klimawandel. Das Gebiet wird später zum Nationalpark Venezuelas.

Im März 1800 besucht Humboldt den Orinoco, den zweitgrößten Fluss Südamerikas, die Katarakte von Atures und Maipone im Orinoco. Er besucht Höhlen, stellt dort Skelette fest, die in Körben hängen. Er stiehlt einen Schädel, schickt ihn zum Göttinger Prof. Blumenbach zur Analyse. Er stellt sich die Frage, ob es eine direkte natürliche Verbindung zwischen Rio Negro und Orinoco geben müsse. Die Geographen verneinen. Es liege ein Gebirge dazwischen. Aber offensichtlich entdeckt Humboldt einen Kanal. Auf Kuba kritisiert Humboldt das Zurückdrängen der Subsistenzwirtschaft zugunsten von Monopolpflanzen wie Kaffee und Zuckerrohr. Nun besichtigt er den Magdalenenstrom und gelangt nach Bogota.

Die großen Mühen fordern ihren Tribut. Geschwüre, Verletzungen, Atemnot stellen sich ein. Dem Chimborazo kommen sie, er und der Arzt, Botaniker Bonpland auf 5000 Metern nahe Die Träger laufen davon. „Mit der Natur lässt sich nicht spaßen.“ Beim Abstieg erblicken sie den Gipfel des Chimborazo. Es entsteht eine Zeichnung. Im Oktober 1802 gelangt Humboldt über Lima nach Guayaquil; Stadt mit dem wichtigsten Hafen Ecuadors. .Er erforscht dort den späteren Humboldtstrom. Die weitere Reise führt ihn 1803/04 nach Mexiko. Er bewundert den dortigen Botanischen Garten, verurteilt nochmals die Sklaverei. Anfang August 1804 gelangt er nach Bordeaux, seine Reise ist zu Ende. Exemplare von 2000 neuen Pflanzenarten und Hunderte Gesteine bringt er mit. Er verfasst zwischen 1807 bis 1827 dreißig Bände über seine Reise, zunächst auf französisch. Die deutsche Übersetzung ist schlecht. 1827 muss er nach Preußen zurück, er fürchtet Berlin wie die kurische Sandwüste. Aber er mischt Berlin auf. Er hält gut besuchte Vorlesungen in der Singakademie, regt die Gründung des Botanischen Gartens an. Und er organisiert 1828 in Berlin einen wissenschaftlichen Kongress. Goethe begleitet diesen Kongress „im Geiste“. Das letzte Treffen mit Goethe findet 1831 statt. 1828 war allerdings das wichtigste Treffen.

Goethes Reisen in die Neue Welt haben sich hingegen nur in sdessem Kopf abgespielt.

Goethes Mährchen – Es ist an der Zeit

Vortrag von Dr. Ariane Ludwig, Weimar, am 1. Juni 2022

„Goethes Märchen“ – der erste Teil des Titels meiner Ausführungen hat den Vorteil, dass er sich nicht genau festlegt. Man kann ihn auf dreierlei Weise verstehen: ganz allgemein als ‚Märchen aus verschiedenen Ländern und Zeiten, die Goethe las, schätze, nacherzählte und von denen er sich inspirieren ließ,‘ oder als ‚alle Märchen, die Goethe verfasst hat,‘ und (3.) als ‚Goethes Mährchen‘‚ wobei ‚Mährchen‘ der artikellose Titel des kostbaren Textes ist, aus dem das Zitat „Es ist an der Zeit“ stammt. Goethe veröffentlichte dieses Mährchen 1795 „zur Fortsezung“ seiner Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten im Oktoberheft des ersten Jahrgangs der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen.

Alle drei der genannten Möglichkeiten, den Vortragstitel ‚Goethes Märchen‘ zu verstehen, werden in meinen Ausführungen Berücksichtigung finden. Entsprechend gliedern sich die folgenden Überlegungen in drei Teile:

Zunächst seien mir einige Hinweise zu Goethes lebenslanger Beschäftigung mit Märchen erlaubt, wobei ich von diesem Punkt bereits hin und wieder zu dem Mährchen (also dem aus den Unterhaltungen) hinleuchten möchte. Dann werde ich alle drei Märchen, die Goethe geschrieben hat – das Mährchen, den neuen Paris und die neue Melusine – mit Blick auf strukturelle und entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge Revue passieren lassen. Abschließend konzentriere ich mich auf das Mährchen und damit auf diejenige von Goethes Märchendichtungen, die, soweit ich sehe, die lebendigste und schillerndste Rezeptions- und Interpretationsgeschichte hervorgebracht hat.

Gleichsam als ‚Vorspann‘ zu allem Folgenden möchte ich, in sehr geraffter Form, die Handlung von Goethes Mährchen vergegenwärtigen:

Einem bunten Figurenensemble – darunter eine Schlange, zwei Irrlichter, mehrere alte Könige und ein alter Mann mit einer Lampe – gelingt es durch das Zusammenwirken der unterschiedlichsten Kräfte und Fähigkeiten sowie im Spannungsfeld vielfältiger Wandlungsprozesse zwischen Leben und Tod, Organischem und Anorganischem einen glücklichen, von einschränkenden Bedingungen freien Zustand herbeizuführen, einen Zustand, in dem individuelles Glück und das Wohlergehen des am Ende in Erscheinung tretenden Volkes harmonisch zusammenklingen und in dem vormals Getrenntes zusammengeführt ist: Verbunden sind am Ende die beiden Ufer eines Flusses durch eine feste Brücke, zu der die Schlange im zum Selbstopfer gesteigerten Ethos des sozialen Helfens geworden ist, und in Liebe vereint sind der Prinz und seine Geliebte – sie erlöst davon, „alles Lebendige durch ihre Berührung“ zu töten, er, dem Leben wiedergegeben, nach einer solchen, in selbstmörderischer Absicht gesuchten Berührung.

Erwachsen ist dieses neugegründete private und politische Glück auch aus Ehrfurcht, aus dem Respekt vor der Vergangenheit und der Tradition: Der junge Prinz erhält die Insignien seiner Herrscherwürde von dreien der alten Könige, eignet sie sich nicht an in einem revolutionär-gewaltsamen Akt.

Das Mährchen wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (ebenso wie drei andere Geschichten) von einem alten Geistlichen erzählt. Er kündigt es an als „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Noch bevor der eigentliche Text des Mährchens beginnt, wird es also als ein ins Offene weisender, sich fixierenden und einengenden Deutungen entziehender, beweglich-bewegender Text charakterisiert. Spielarten dieses ‚Offenen‘ oder ‚Freien‘ werde ich im Zusammenhang mit einer bestimmten Erzählstruktur und auch am Beispiel freier und befreiender Heiterkeit im Mährchen sowie eines humorvoll-tiefsinnigen ‚Umgangs‘ mit diesem Text kurz ‚antupfen‘. Des Weiteren soll einiges, woran das Mährchen ‚erinnern‘ kann, im Folgenden berührt werden, seien es Bezüge zu den Unterhaltungen und anderen Werken der Kunst oder auch solche zur historischen ‚Realität‘.

Durch die fabulierungsfrohe Mutter als Kind schon mit Märchen vertraut, erlas Goethe sich im Laufe seines Lebens neben den ‚Klassikern‘ der Märchenliteratur – den Kinder- und Haus-Märchen der Brüder Grimm und Tausendundeine Nacht zum Beispiel – eine Fülle an Märchenliteratur, darunter die orientalische Sammlung Tûtî-nâmé, das ‚Papageienbuch‘ aus dem 12. Jahrhundert, und Wielands Versmärchen Pervonte oder Die Wünsche.

Goethes Faszination für die Textform Märchen und deren poetische Gestaltung ballt sich kompakt, wenn bei seinem in den Horen veröffentlichtem Mährchen Titel und Genrebezeichnung in eins fallen. Ähnliches kennen wir von späteren Werken Goethes, von seiner Ballade und von seiner Novelle, auch sie prägnant-artikellos wie Mährchen. Von allen Geschichten, die in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erzählt werden, ist das Mährchen die einzige, die einen Titel hat; auch deshalb fällt er, ohnehin schon ungewöhnlich in seiner Artikellosigkeit, besonders auf. Das Mährchen, das ohne einen Titelzusatz wie ‚von der Schlange‘ oder ‚von einem, der auszog, einen breiten Fluss zu überqueren,‘ am Ende eines Werkes steht, in dem viel über Gattungsfragen nachgedacht und gesprochen wird, auch über die Erzählform des Märchens, könnte als Goethes in poetische Praxis umgesetzte, raffinierteste und schwebendste Gattungs‘definition‘ betrachtet werden. Wilhelm von Humboldt wurde durch die Lektüre dieses Textes angeregt, an Theorien und Gattungsfragen zu denken: Im Februar 1796 bezeichnet er in einem Brief an Goethe dessen Mährchen als „das erste Muster dieser Gattung in unserer Literatur“. Es lasse ihn „in eine ordentliche Theorie des Mährchens verfallen“. Wenige Jahre später denkt Novalis die Theorie der Gattung ‚Märchen‘ weiter – und dies ganz sicher inspiriert durch Goethes Mährchen. In seinem Allgemeinen Brouillon notiert Novalis: „Das Mährchen [also die Erzählform ‚Märchen‘] ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn.“

Als Dichter und Naturwissenschaftler war Goethe immerfort interessiert an Wandlungen, an Metamorphosen. Denken Sie allein an Gedichte wie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) und Metamorphose der Tiere. Ein Tagebucheintrag vom November 1807 zeigt Goethes genauen Blick auf die Transformation von Märchenstoffen und -motiven: „Früh Aladdin, das Märchen im Original gelesen und mit Oehlenschlägers Bearbeitung verglichen“. Das „Original“, mit dem Goethe Adam Oehlenschlägers dramatische Bearbeitung vergleicht, ist die uns allen bekannte Geschichte von Aladin und der Wunderlampe.

Vielleicht, so mag man leichthin spekulieren, hatte Goethe ein besonderes Interesse an der zeitgenössischen Bearbeitung des Wunderlampen-Motivs durch Oehlenschläger, weil er es selbst bereits in seinem zehn Jahre vor dessen Aladdin entstandenen Mährchen auf eine sehr feinsinnige Weise transformiert hatte: Die Lampe des Alten in Goethes Mährchen ist eine Verwandte von Aladins wohltätiger Wunderlampe. Anders als der Riese, der im Aladin-Märchen der Lampe entspringt und durch physische Kraft wirkt, ist es in Goethes Poesie der reine Schein der Lampe, der Wirkungen ausübt: In Gegenwart anderer Lichtquellen „erquickt“ er [so heißt es bei Goethe] „alles Lebendige“ und, wenn kein anderes Licht leuchtet, wandelt sich alles von ihm Erhellte auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Liste an Beispielen von Goethes vielseitigen Facetten des Interesses an Märchen, wie es u.a. in Lektüren, Briefen und Tagebuchnotaten zum Ausdruck kommt, ließe sich gewiss so lange verlängern, bis wir auf mindestens 1001 Belegstelle kämen, denn, das dürfte in dieser kurzen tour d’horizon deutlich geworden sein: Goethes „Mährchenvorrath“ war groß.

Das wunderbare Wort „Mährchenvorrath“ verwendet er selbst in Dichtung und Wahrheit im Zusammenhang damit, wie die Lektüre, wie die Rezeption in eine Form von lebendiger Produktion übergehen kann – in dem dort geschilderten Beispiel ist es die des Nacherzählens einer indischen Sage.

Man kann diese Stelle als Affirmation eines engen Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Märchentyp und dem mündlichen Erzählen lesen – und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt, der nicht zuletzt alle drei von Goethe im Rahmen seiner Werke veröffentlichten Märchen miteinander verbindet: Alle sind explizit an eine Erzählerfigur gebunden, es sind, auch wenn sie in gedruckter Form erscheinen, erzählte Märchen.

Goethes drei schriftlich festgehaltene Märchen – und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags – sind in chronologischer Reihenfolge der Entstehung und Publikation: Das Mährchen, Der neue Paris und Die neue Melusine. Bei den letztgenannten ist der jeweilige Erzähler selbst eine Figur der Märchenhandlung. Der alte Geistliche hingegen, der das Mährchen der Unterhaltungen erzählt, tritt im Mährchen selbst nicht in Erscheinung.

Vergleicht man die Titelfügungen von Goethes drei Märchen, ist man vielleicht versucht, als eine Besonderheit des Mährchens die zu benennen, die bereits mit dem Titel beginnt. Er verankert es, gerade auch im Vergleich zum neuen Paris und zur neuen Melusine, in keiner Sukzession, sondern entbindet es aus Prozessen einer zeitlichen Nachfolge und erkennt ihm so dezent und in schönster Unaufdringlichkeit eine auf Dauer gestellte Aktualität zu.

Das Mährchen schrieb Goethe im Herbst 1795, im zweiten Jahr seiner Freundschaft mit Schiller und mitten in der Arbeit an seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es erschien, ich wies bereits darauf hin, 1795 ‚zur Fortsetzung‘ der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in denin diesem Jahr gegründeten Horen. Ebenfalls 1795 erschienen in dieser Zeitschrift u.a. auch Goethes Römische Elegien und Schillers Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Das Mährchen befindet sich also von seiner Entstehung an in bester literarischer und philosophischer ‚Gesellschaft‘, in einer Gesellschaft, in der, sehr vereinfacht gesagt, Fragen der Bildung des Menschen hin zu einem in der Gesellschaft auch politisch mündig agierenden Individuum in unterschiedlichen Formen dargeboten und durchdacht werden. Diese Bildung geschieht durch die verschiedensten Wirkmächte – Liebe, Kenntnis und lebendige Anverwandlung der Tradition, geselliger, geistig-wacher Austausch, philosophische Durchdringungskraft. Vor allem über das Verhältnis des Mährchens zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen hat die Forschung intensiv nachgedacht und das Mährchen als „Auseinandersetzung“ mit Schillers Briefen charakterisiert, wobei die Art der ‚Auseinandersetzung‘ sehr unterschiedlich gedeutet wird: Das Spektrum reicht von kritisch bis zustimmend, von einer Interpretation des erlösungsbedürftigen Prinzen als Schiller bis hin zum Verständnis des Mährchens als eines „ästhetischen Spiel[s]“ in Schillers Sinne.

Nicht in den Horen, aber im gleichen Jahr wie das Mährchen veröffentlichte Immanuel Kant seinen ‚philosophischen Entwurf‘ Zum ewigen Frieden. Auch im Titel von Schillers Horen scheint in der revolutionsbewegten Zeit nach 1789 die Idee des Friedens auf, wenngleich nur indirekt: Eunomia, Dike und Eirene (Gute Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden) sind die drei Horen, die Töchter des Zeus und der Themis.

Friede herrscht hingegen nicht zu Beginn von Goethes 1793 spielenden Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der ersten deutschen Novellensammlung nach romanischen Vorbildern. Die bekannteste dieser romanischen Novellensammlungen ist gewiss Giovanni Boccaccios um 1350 entstandenes, Goethe von Jugend an bekanntes Decameron. August Wilhelm Schlegel ist, soweit ich sehe, der erste, der die Unterhaltungen mit dem Decamerone in Verbindung brachte: In diesem Werk der italienischen Renaissance erzählen zehn vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut geflohene Personen sich insgesamt 100 Geschichten. Nicht die Pest, wie im Decamerone, sondern kriegerische Ereignisse lassen in Goethes Unterhaltungen deutsche Aristokraten vor den Revolutionstruppen vom linken Rheinufer auf ihre rechts des Rheins gelegenen Güter fliehen. Mit dem Decamerone haben die Unterhaltungen also gemeinsam, dass sie in einer Krisenzeit entstanden sind und spielen: Goethes Mährchen ist einer Krisen- und Kriegszeit entsprungen.

Ein kurzer Blick ins 20. Jahrhundert: Wenn Gerhart Hauptmann sein Märchen, in dem uns viele von Goethes Märchenfiguren wiederbegegnen, 1941 als, so Hans Mayer, „erschütternde Kriegsdichtung“ schreibt, ‚rezipiert‘ er auch den historischen Entstehungskontext von Goethes Unterhaltungen bzw. des goethischen Mährchens; Hauptmann vermag es, anders als Goethe allerdings nicht, sein Märchen „im Bild sozialer Harmonie“ enden zu lassen. – Ein kurzer Blick ins 21. Jahrhundert: In der Zeit, in der wir leben, nimmt man das (ganz allgemein gesprochen) Verhältnis von Literatur und Krieg vielleicht auf eine andere Art wahr als noch vor einigen Monaten.

Strukturell folgen die Unterhaltungen dem Modell des Decamerone, in eine Rahmenhandlung von verschiedenen Personen erzählte Geschichten zu integrieren – mit einem besonders auffälligen Unterschied: Boccaccios Werk endet mit der Rückkehr in die Rahmenhandlung, die Unterhaltungen hören mit dem Mährchen auf, ohne dass der Erzählfaden der Rahmenhandlung wiederaufgenommen wird.

Die Bedeutung des Offenen seiner Novellensammlung betont Goethe in einem Brief an Schiller aus dem August 1795:

„Ich würde die Unterhaltungen damit [also mit dem Mährchen] schließen, und es würde vielleicht nicht übel seyn, wenn sie durch ein Product der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen.“

Durch dieses offene ‚Ende‘ kann, anders als nach den anderen Geschichten der Unterhaltungen, kein Gespräch zwischen dem alten Geistlichen und seinen Zuhörern über das Mährchen zustande kommen, ein Umstand, der zunächst vor allem dann verwundert, wenn man bedenkt, dass im Mährchen das Gespräch im Verlauf eines Dialogs zwischen der Schlange und einem der Könige, dem goldenen, als „erquicklicher als Licht“ (116) gewürdigt wird.

Vielleicht kann man gerade das Nicht-Geschlossene der Unterhaltungen aber auch im Sinne einer Einladung an jeden Leser dieser Novellensammlung deuten, das Gespräch über das Mährchen zu suchen. Nicht mehr die Figuren der Kunst tauschten sich dann über den von einer Figur aus den Unterhaltungen erzählten Text aus – diese schöne Aufgabe dürfen die Leser nun übernehmen. Dass diese ‚Einladung‘ gerne ‚angenommen‘ wurde, zeigen zunächst Reaktionen von Goethes Zeitgenossen – Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel hatte ich schon genannt.

Goethe stellt 1816, aus der Distanz des Rückblicks, drei sehr unterschiedliche Deutungen aus der Publikationszeit des Mährchens in einer Tabelle zusammen. Da wurden z.B. die Irrlichter als „Leichter Sinn. Das Genie. Bel Esprit. Der Adel“ oder als „Spekulanten. Sophisten“ oder als „Die Stutzer und Schmarutzer“ gedeutet. … Divergent waren die Deutungen von Anfang an. Man ist versucht zu sagen: So wandlungsfähig wie die Gestalten in Goethes Mährchen, so wandlungsfähig sind die Auslegungen und Deutungen, mindestens so wandlungsfähig … Sie reichen „von biographisch-geschichtlichen Ansätzen über psychologische, neuidealistische, ästhetische, anthroposophische, alchimistische“ bis hin zu der u.a. von Friedrich Gundolf vertretenen Position, die „jeden Versuch einer Interpretation“ ablehnt.

Ins ‚Gespräch‘ über das Mährchen kommen auch Dichter und Komponisten wie Novalis,Ludwig Tieck, Gerhard Hauptman, dessen Märchen ich bereits erwähnt habe. Novalis z.B., dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird, ist (nicht zuletzt) fasziniert von den leitmotivisch im Mährchen wiederkehrenden Worten „Es ist an der Zeit“.

Anonym wurden die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten publiziert; Schiller folgte bei diesem Werk Goethes Wunsch, dessen Autorschaft bei keinem seiner Beiträge für die Horen offenzulegen. Im Falle des Mährchens wird dadurch zugleich eine schwebende Balance zwischen der anonymen Autorschaft von Volksmärchen und dem Umstand, dass Goethes Mährchen einen Autor hat, erzeugt.

In einem anderen Punkt als dem der im Anonymen verbleibenden Autorschaft entsprach Schiller Goethes Begehren allerdings nicht: Dieser wollte das Mährchen in zwei Teilen veröffentlichen und schrieb dem Herausgeber Schiller: „Das Mährchen wünscht ich getrennt, weil eben bey so einer Producktion eine Haupt Absicht ist die Neugierde zu erregen.“ Auch in diesem Vorhaben, das scheherazadische Prinzip eines Fabulierens in Abbrüchen und hinausgezögerten Fortsetzungen zu adaptieren, erweist Goethe sich als von seinem ‚Lebensbuch‘ Tausendundeine Nacht angeregter Dichter.

Im Zusammenhang mit später nicht verwirklichten Plänen, einen zweiten Teil der Unterhaltungen zu schreiben, teilt Goethe Schiller im Februar 1798 mit:

„Übrigens habe ich etwa ein halb Dutzend Mährchen und Geschichten im Sinne, die ich, als den zweyten Theil der Unterhaltungen meiner Ausgewanderten, bearbeiten … werde.“

Von den geplanten Geschichten, die Goethe zur Zeit seiner Freundschaft mit Schiller nicht niedergeschrieben hat, sind, so vermutet Hans Gerhard Gräf, einige möglicherweise in Wilhelm Meisters Wanderjahre aufgenommen worden. Vielleicht, so mag man hinzufügen, landete auch eines als Der neue Paris in Dichtung und Wahrheit. Dieses „Knabenmährchen” integrierte Goethe als eine Geschichte, die er selbst Gespielen seiner Jugend zu wiederholten Malen vorgetragen haben will, in den ersten Teil der autobiographischen Darstellung, der 1811 erschien.

Wenngleich Goethe in seiner Zeit mit Schiller kein weiteres Märchen außer dem in die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten integrierten zu Papier brachte, haben die Freunde sich etwas ausführlicher noch über ein weiteres ausgetauscht:

Im Februar 1797 schreibt Goethe an Schiller: ”Das Märchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.” Es ist die wohl erste Stelle, an der sich Konturen eines Märchens abzeichnen, von dem Goethe später in Dichtung und Wahrheit behauptet, er habe es Friederike Brion und anderen Freunden Anfang der 1770-er Jahre erzählt: Dieses Märchen, Die neue Melusine, wurde allerdings nicht in die Lebensbeschreibung eingefügt. Sie erschien zuerst in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 und auf das Jahr 1819 in zwei Teilen – hier holt Goethe gleichsam nach, was er sich für das Horen-Mährchen gewünscht hatte: ein Märchen in zwei Teilen zu veröffentlichen. Mit der ersten Publikation der neuen Melusine treibt er das Prinzip allerdings auf die Spitze, indem er den Text mitten im Satz, nach einem „Vernimm also“, abbrechen lässt.

,„Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesammten Märchenwelt sein“ schrieb Achim von Arnim im Oktober 1812 an Jacob Grimm. Dass Goethe alle seine Märchen an Erzählerfiguren bindet und sie jeweils in einen größeren epischen Kontext – in eine Novellensammlung, in seine Autobiographie und in einen Roman – integriert, könnte durch ähnliche Einsichten motiviert sein. Vielleicht gelingt es in einem solchen Erzählrahmen annähernd, „die [so diktiert Goethe im April 1831 in sein Tagebuch] reine Unbefangenheit des Mährchens, welche dessen Hauptcharakter ist,“ zu bewahren. Goethes drei Märchen lassen den atmosphärischen Zauber gesellig-lebendigen Erzählens erahnen. Seine Märchen werden – im Rahmen der Fiktion – nicht in gedruckten Buchstaben ‚fixiert‘. Ihnen bleibt eine Form von Freiheit durch die mündlich-lebendige Form, in der sie dargeboten werden.

Die drei Märchen, die Goethe im Verlauf seines Lebens publiziert hat, können, so Peter von Matt, „als überlebende Zeugen einer großen Produktion mündlicher Geschichten angesehen werden, die alle mit ihrer Entstehung auch schon wieder verhallten und untergingen.” Von zweien dieser Geschichten finden sich zumindest noch Spuren bzw. eine ist als größeres Fragment überliefert:

In der Zeit, in der das Mährchen in den Horen erschien, hatte Goethe mit Der Zauberflöte zweyter Teil einen unvollendet gebliebenen Versuch unternommen, eine Fortsetzung von Mozarts und Schikaneders 1791 uraufgeführter Märchenoper zu schreiben. Mit der Kunstform der Oper wiederum wurde Goethes Märchen, dessen Lichtregie an die der Zauberflöte mit ihrem von den Strahlen der Sonne überglänzten Schluss erinnert, bereits früh in Verbindung gebracht. Novalis nannte es „eine erzählte Oper“. Später sprach Hugo von Hofmannsthal, diesen Gedanken aufgreifend, von einer „innere[n] Oper“ und von einer „Symphonie“, welche die Seele des Lesers „ganz erfüllt“. Goethes der Zauberflöte zweiter Teil, so Hofmannsthal, stehe dem Mährchen „zunächst“: „Wäre es [wieder Hofmannsthal] eine Oper, es wäre leicht die vollkommenste aller Erfindungen, die jemals der Musik gedient haben.“

Mozarts Zauberflöte und Goethes Mährchen haben im Übrigen eine große Nähe zu freimaurerischem Gedankengut gemeinsam: So spielt die Zahl drei in beiden Kunstwerken eine große Rolle. Und das vorhin erwähnte Gespräch in Goethes Mährchen zwischen der Schlange und dem goldenen König, der ihr (prüfende) Fragen stellt, ist am Initiationsritual der Freimaurer orientiert.

Im Zusammenhang mit einem „zweyte[n] Mährchen“, das Goethe damals zu verfassen beabsichtigt, schreibt er im Mai 1796 an Wilhelm von Humboldt und reagiert damit auf dessen positive Resonanz auf das Mährchen, die ich bereits erwähnt habe:

„Was Sie über das Märchen sagen, hat mich unendlich gefreut. Es war freilich eine schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos zu sein. Ich habe noch ein anderes im Sinne, das aber, gerade umgekehrt, ganz allegorisch werden soll […].“

„bedeutend und deutungslos“ – das kann als eine Variante der bereits zitierten Worte des alten Geistlichen beschrieben werden: „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Und damit komme ich zum dritten und letzten Teil meiner kursorischen Anmerkungen zu Goethes ‚Märchen‘. In Goethes Mährchen treten auf – und allein alle ‚Figuren‘ vollständig aufzuzählen, ist ein Vergnügen: ein Fährmann, zwei Irrlichter, eine Schlange, ein Mann mit einer Lampe, dessen Frau, drei Könige aus Gold, Silber und Erz sowie ein vierter, ein ‚Gemischter‘. Ferner: ein Prinz, die Prinzessin Lilie, drei ihr dienende Frauen, ein Mops, ein Kanarienvogel, ein Habicht, ein Riese und nicht zu vergessen: drei Artischocken, drei Kohlhäupter und drei Zwiebeln. Allein dieses ‚Personenverzeichnis‘ zeigt eine große Erzähllust Goethes.

Alle Figuren und ihr Handeln sind, ich wies bereits darauf hin, in einem komplexen System von Bedingungen, Wandlungsprozessen, Prophezeiungen und Erfüllungen miteinander verbunden. Alles wandelt sich durch-, mit- und aneinander. Mir scheint, dass die Verwandlungsfrequenz im Vergleich z.B. zu den Grimmschen Märchen eine sehr hohe ist; fast möchte man das Mährchen als ‚Metamorphose-Märchen‘ bezeichnen. Unter seinen Figuren gibt es keine, die intentional böse ist: Der Schlange ist nichts von der Verführungsneigung ihrer alttestamentarischen Verwandten zu eigen – im Gegenteil, sie, die ausdrücklich zur Entsagung fähige Figur beschrieben wird, ist zum die Brücke ermöglichenden Selbstopfer bereit. Riese und Irrlichter richten zwar allerlei – stets zu behebendes – Unheil an, aber nicht aus böswilliger Absicht. Goethes Mährchen ist eine Erzählung ohne bösen Wolf und ohne hinterlistige Stiefmutter.

Die beiden Irrlichter, welche die Handlung des Mährchens durch ihr Begehren, vom Fährmann über den Fluss geschifft zu werden, in Gang setzen, sind anders als z.B. in Wilhelm Müllers Winterreise, keine Lichtphänomene, die „in die tiefsten Felsengründe“ locken. Sie sind auch nicht wie im Faust dem Dunstkreis der Walpurgisnacht zugeordnet. Als höchst bewegliche, in immerwährender Verwandlung begriffene Gestalten ‚irrlichteliren‘ sie (um dieses schöne Verb aus der Schülerszene des Faust aufzugreifen) durch das Mährchen und haben auch den letzten Auftritt von allen der oben genannten Märchenfiguren. Dass die Irrlichter, die wandelbarsten aller wandelbaren Gestalten in Goethes Mährchen, es durch zwei ihrer vielen Auftritte rahmen, ist bezeichnend.

Goethes Irrlichter ernähren sich von Gold: Haben sie sich sattgegessen, sind sie wohlgenährt, haben sie das Gold in Form von Goldstücken aus sich geschüttelt, wie es ihre Art ist, sind sie mager und klein. Lachend und spielend, meist sehr galant, charmant und gut gelaunt, bewegen sie sich durch das Mährchen, sind durchaus fähig, „feierlich“ aufzutreten, nehmen aber ernsten Situationen durch „krause[] Verbeugungen“ die Schwere und vergeuden am Ende des Mährchens „auf eine lustige Weise“ nochmals Goldstücke.

Nicht zuletzt die Beschreibung der Irrlichter kennzeichnet ein heiter-schwebender Tonfall, dessen Bedeutung Gonthier-Louis Fink betont: „[W]ie dann auch für die Romantiker“ sei der Humor keine „beliebige Beigabe“; er gehöre vielmehr „wesenhaft“ zu Goethes Mährchen, „von der notwendigen Freiheit des Geistes gegenüber der Intrige“ und „gegenüber den politischen Problemen“ zeugend.

Treten wir vom Licht der Irrlichter und deren Heiterkeiten nochmals ins Dunkle zurück:

Goethes Mährchen beginnt [Zitat] „Mitten in der Nacht“ an „dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war“ – eine gewohnte Form ist verlassen, ein bestimmtes Maß überschritten, eine Gefährdung ist spürbar, welcher Art auch immer sie sei – gesellschaftlicher, sozialer, auf die Umwelt bezogener oder politischer; letzteres – richtet man den Fokus auf die Entstehungszeit – in einer Deutung, die in dem über die Ufer getretenen Fluss „ein Bild für die [politische] Revolution“ sieht, wie z.B. Stefan Neuhaus es tut. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die geographischen Räume, in denen Goethe sich viel und gerne bewegte, mag man in dem Fluss die Saale in Jena wiedererkennen, an deren UferGoethe während eines Spazierganges Ideen zum Beginn seines Mährchens empfangen haben könnte. Betont man den Umstand, dass das Mährchen zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gehört, wird man wohl sagen: Was den Personen der Rahmenhandlung der Unterhaltungen mit der Flucht über den Rhein gelungen ist, die Überquerung eines Stromes, gestaltet sich für die Figuren des Mährchens schwierig, beeinträchtigen doch verschiedene Gesetze das Leben und den Austausch über den großen Fluss hinweg, Gesetze wie: der Fährmann darf Fahrgäste nur in eine Richtung übersetzen, er darf nur „mit Früchten der Erde bezahlt“ werden, „in der Mittagsstunde“ kann sich die Schlange zur Brücke über den Fluss wölben, der abends auf dem Schatten des Riesen überquert werden kann. Spürt man in der Topographie des Mährchens Rom-Reminiszenzen auf wie einige Interpreten, darunter Katharina Mommsen, es tun, wird Goethes Märchen-Fluss vor dem inneren Auge zum Tiber mit der Engelsbrücke … Dies nur als ein kleiner Eindruck davon, wohin es führt, wenn man nur bei den allerersten vier Worten des Mährchens „An dem großen Flusse“ in die Interpretationsgeschichte eintaucht —

Das Mährchen endet ohne eine konditionale Einschränkung wie ‚und wenn sie nicht gestorben sind‘ mit dem Bild eines lebendig wimmelnden Austauschprozesses über den Fluss hinweg, eine Bewegung, die (Zitat) „bis auf den heutigen Tag“ andauert. Es ist ein opernhaft anmutendes, gleichsam in leuchtendem C-Dur erklingendes Schlusstableau, das, wie Volker Klotz betont, „kein Volksmärchen so kennt“.

Die Zeit, in der das Mährchen spielt, ist eine Zeit der Erwartungen auf Erfüllungen, eine Zeit, die angekündigt wird durch das insgesamt fünf mal wiederholte „Es ist an der Zeit“, eine Wendung, die sich auch in der Bibel findet, z.B. in der Offenbarung des Johannes. Diese Worte, die im Mährchen leitmotivisch, nahezu musikalisch geführt und variiert werden, indem sie von verschiedenen Figuren an verschiedenen Orten gesprochen, ab und zu auch in indirekter Rede wiedergegeben werden, lenken das Augenmerk auf die Bedeutung der Zeit und auf ihr Dahinfließen, ihr Vergehen – die Bedingung für allen Wandel, für alle Verwandlung.

In den mehrfachen Ankündigungen liegt viel, auch die Ruhe der variierten Wiederholung. Die neue Zeit kommt als prophezeite, nicht durch Revolution, nicht in einem Gewaltstreich.

Der im „Es ist an der Zeit“ angekündigte Zustand der Erfüllung findet am Schluss des Mährchens ein wunderbares Korrelat in einer neuen Form der Zeitangabe, in der Zeit und Raum eins werden: Der Riese ist zu einer steinernen Bildsäule geworden: (ich zitiere) „sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern eingelegt waren.“

Eine Assoziation: Eine neue Zeitrechnung führte auch der französische Revolutionskalender ein – aber das war sicher keine, die in einer ‚edlen‘ Sprache der (Bildenden) Kunst Ausdruck fand.

Der harmonische Schlussakkord des Mährchens kann auch deshalb erklingen, weil es von dem belebt ist, was Goethe gegenüber Schiller einmal als (eine) „Idee“ des Mährchens bezeichnet hat:

„das gegenseitige Hülfleisten der Kräfte und das Zurückweisen aufeinander“.

Oder, mit den Worten des Alten mit der Lampe: „[E]in einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“

In diesen Kontexten kann auch der in den Xenien veröffentlichte Zweizeiler „Das Märchen“ verstanden werden:

Mehr als zwanzig Personen sind in dem Mährchen geschäftig.

‚Nun, und was machen sie denn alle?‘ Das Mährchen, mein Freund.

Leichtfüßig tritt dieses Epigramm heiteren Tonfalls ein für die Autonomie der Kunst, die sich um 1800 als eigenständiges System intensiv selbst zu betrachten beginnt. Auf seine Weise spricht es auch über das Zusammenwirken aller, wie Hans Mayer betont:

„Alle [Figuren] … verharren im Zustand partieller Möglichkeiten; alle aber sind schließlich notwendig, um die Schlußharmonie herbeizuführen.“

Angeregt durch Hartmut Reinhardts schönen Aufsatz „Lizenz zum Spielen“ kann man dieses gegenseitige Helfen auch als etwas verstehen, das Gewalt und Revolution verhindert: Jeder trägt bei, was er vermag, aber jeder nimmt sich und sein Begehren gleichzeitig zurück, bändigt seine Leidenschaften und Triebe, auf dass sie nicht in verderblichen Revolutionen ihre Explosivkraft entfalten.

Lassen Sie uns den Blick ein wenig über das Thema ‚Das Mährchen und die Französische Revolution‘ hinaus weiten und auf die, wie mir scheint, gesellschaftstheoretische Tiefenschärfe, die ihm auf subtile Weise zu eigen ist, schauen:

Die ‚Notwendigkeit‘ zum gegenseitigen Helfen erwächst auch daraus, dass alle Figuren spezifischen Bedingungen unterworfen sind – ich darf pars pro toto an die zur Flussüberquerung erinnern –, und dass alle hoch spezialisierte ‚Fähigkeiten‘ oder Eigenschaften haben: Die Schlange kann eine Brücke über den Fluss bilden, sie kann sich zum Ring um den toten Prinzen formen und, Zeit und Raum in dieser Figur eins werden lassend, den Körper vor der Verwesung schützen, bis er ins Leben zurückkehren kann, die Irrlichter vermögen am Ende des Mährchens die Pforten des Heiligtums zu öffnen, weil sie das goldene Schloss einfach „aufzehren“ können, u.s.w.

Fähig-Sein und Bedingt-Sein scheinen zusammenzuhängen: Je spezieller eine Fähigkeit in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, um so höher die Unfähigkeit, ‚anderes‘ zu tun, wodurch man sich einschränken muss, es zu Bedingtheiten kommt.

Kurz: Könnte man in den speziellen Fähigkeiten der Märchenfiguren und in den speziellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, nicht auch ein Bild für eine Gesellschaft sehen, die sich – hier durchaus systemtheoretisch gesprochen – mehr und mehr ausdifferenziert in Teilsysteme?

Goethes Mährchen gelingt es, diese Teilsysteme zu einem sinnhaften Ganzen zusammenwirken zu lassen. Was zum Auseinanderfallen tendiert, denkt sein Text zusammen. Ist dieses Zusammenwirken, das auch bedeutet, dass das Glück der Einzelnen mit dem der Gesellschaft korrelierbar ist, ist dieses Zusammenwirken in die Gestalt eines Märchens gekleidet, weil es für ein zunehmend Unverwirklichbares gehalten werden muss, oder weil das Märchen die Form ist, in der sich am ‚zartesten‘ darüber sprechen lässt?

In den bisherigen Ausführungen klang an, dass ich persönlich das Mährchen gerne lese als Gegenbild zu allem, was zu schnell, zu übereilt, zu unbedacht, zu wenig sozial denkend getan wird und deshalb in Gewalt ausarten kann. Dass ein Antidot gegen Gewalt bzw. ein Mittel zur Verhinderung von Gewalt eine freie und befreiende Heiterkeit sein könnte, habe ich im Zusammenhang mit den Irrlichtern im Mährchen schon anzudeuten versucht.

Schauen wir zum Abschluss noch auf einen humorvollen Umgang mit dem Mährchen:

Ende September 1795 äußerte Goethe in einem Brief an Schiller: „Ich hoffe die 18 Figuren dieses Dramatis sollen, als soviel Rätzel, dem Räzelliebenden willkommen seyn.“.

Diese Hoffnung erfüllte, ja übererfüllte als einer der ersten der kunst- und feinsinnige Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg. Im Dezember 1795 schreibt er Goethe einen langen Brief, in dem er in humorigem Ton die Idee vorbringt, der Verfasser des Mährchens könne kein anderer als der Evangelist Johannes sein, der demzufolge logischerweise noch leben müss.

Auf 99 Deutungen wolle Goethe warten: Die mit der Märchenzahl ‚drei‘ spielende Zahl 99 deutet auf ein Inkommensurables, auf etwas, das sich verfügendem Zugriff entzieht.

In diesem Warten-Wollen liegen Geduld und Ruhe, ebenso wie ein gründliches Rätselraten Zeit erfordert – und ein genaues Hinschauen, ein Sich-Hinneigen, ein Sich-Zuwenden zum Objekt der Rätselfreuden.

Heiterkeit und die Ruhe des Rätselratens: Ihnen wohnt nichts von dem Absolutheitsanspruch einer ‚richtigen‘ Deutung inne. Heiterkeit und Rätselraten sind keine revolutionären Bewegungen. Liegt auch in einem heiteren, rätselfrohen Umgang mit dem Mährchen etwas, das subtil als ein Einspruch gegen alles, was zu schnell, was zu ‚velozieferisch‘ ist, ein Vorbehalt gegenüber revolutionären, gegenüber gewaltsamen Ereignissen?

Vielleicht – Ich denke an einen Dialog zwischen Papageno und einem Herrn in Goethes Zauberflöten-Fragment, der die Bedeutung der Möglichkeit, in heitere Distanz treten zu können, pointiert ausspricht:

HERR: Du bist also noch immer weiter nichts als ein Lustigmacher?

PAPAGENO: Und deshalb unentbehrlich.