Goethe Gesellschaft Gera e.V. » 4. November 2010 Vortrag von Dr. Detlef Ebert

4. November 2010 Vortrag von Dr. Detlef Ebert

erstellt am: 04.11.2010 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

“Goethe als Patient”,  Exzerpt aus dem Vortrag von Dr. Detlef Ebert, Gera

„Ich habe viel in der Krankheit gelernt, das ich nirgends in meinem Leben hätte lernen können“, schrieb Goethe Ende Dezember 1768 an Käthchen Schönkopf nach Leipzig. „Oh, wenn ich jetzt nicht Dramen schreibe, ich ginge zu Grund!“
Der 19-jährige Jura-Student war gerade wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung in seine Heimatstadt Frankfurt/M. zurückgekehrt, um sich im elterlichen Haus am Hirschgraben in die aufopferungsvolle Pflege von Mutter und Schwester zu begeben. Das Verhältnis zum Vater, der sich um die exzellente Schulbildung Wolfgangs so außerordentliche Verdienste erworben hatte, geriet dagegen in eine Krise. Für ihn war der Sohn ein verweichlichter Studienversager, womit der gestrenge Kaspar Goethe den Ernst der Situation völlig verkannte.

Der sich im damals mondänen Leipzig als elitäre Lebemann und genialischer Dichter-Rebell inszenierende Johann Wolfgang Goethe war nämlich an einer offenen Lungentuberkulose erkrankt, deren Heilungschancen bei 10 bis 20 Prozent lagen. Auslöser für diese typische Immunschwächeerkrankung dürfte die hektisch-extrovertierte Selbstentfremdung des Leipziger Lebensstils des jungen Goethe gewesen sein. Er selbst diagnostizierte neben seinem überschwänglichem Lebenswandel noch falsche Ernährung und Bewegungsmangel als Ursachen für seine „System-Dysharmonien“, die sich bis zur „Verschwörung oder gar Revolution“ einer organischen Krankheit auswachsen können, um das Ganze zu retten. Krankheit als Signal für Störungen im Gesamtorganismus, für „Außbalancen“ und „Dysharmonien“ – was für ein Paradigmenwechsel. In der über eineinhalbjährigen Rekonvaleszenzzeit, in der der „Schiffbrüchige“ mehrmals dem Tode nahe ist, überwindet Goethe sowohl die Tuberkulose als auch die schwere seelische Krise der Leipziger Studentenzeit. Er erkennt sehr deutlich die enge Vernetzung von Körper und Seele, womit jede Krankheit eben auch von Psyche und Soma beeinflusst wird und entwirft ein ganzheitliches Gesundheitskonzept, in dem somatische, psychische und soziale Faktoren wechselseitig aufeinander wirken. Gesundheit als Fähigkeit, die lebensnotwendigen Ressourcen seiner Umgebung zu nutzen.

Goethes Bildung, sein Antizipationsvermögen und sein poetisches Talent – er schrieb Dramen! – ermöglichten jene Kohärenz zwischen äußerer und innerer Realität, die, wie wir heute wissen, die Grundlagen für die Stabilität des Selbst und damit von psychosomatischer Gesundheit bildet. So wurde die Krise der Leipziger Krankheit zur ersten großen Lebenswunde, zu einer „Metamorphose“ und zur vielleicht wichtigsten Epoche in Goethes künstlerischer Entwicklung. Bildung als Rettungsanker, Natur und Kunst als Kraftquell für Katharsis und Gesundung. Die Modernität und Zukunftsfähigkeit der Geotheschen Gesundheitsvorstellungen kann angesichts unseres heutigen Gesundheitswesens, das finanziell und konzeptionell in einer Sackgasse steckt, gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

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