Vortrag von Prof. Udo Ebert, Jena, am 8. Februar 2017
Vor Beginn seiner Vorlesung „Ästhetisches Vergnügen und psychologische Neugier – Schillers Interesse an Verbrechern“ übergab Prof. Ebert an jeden anwesenden Goethefreund eine Gliederung seines Vortrages zum Thema.
1781 verfasste Schiller sein Drama „Die Räuber“ und schrieb nach seiner Flucht nach Mannheim und Bauerbach das Drama „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In diesen Werken zeigt er Unterschiede zwischen moralischen und ästhetischen Beurteilungen von Verbrechern auf. Moralisch betrachtet lautet das Urteil „schlecht“, es handelt sich um „unerhörte Verbrechen“. Bei ästhetischer Betrachtung wirken Kraft und Freiheit vor Gesetzen. Es bestehen starke Beziehungen zur Wirklichkeit. Das Problem der Ästhetik stand bei Schiller ganz oben, ihm war es um das Erzählen von Lebensgeschichten über das Seelenleben von Menschen zu tun. Daraus entstanden Verbrechergeschichten, Einblicke ins menschliche Fühlen und sittliches Verhalten.
Vorgetragen und dargestellt wurden von Prof. Ebert auch Zitate Schillers aus Kriminalgeschichten, wie zu Motiven, die zu bösen Vebrechen führten. Auch Vergleiche, die Schiller gern anstellte, stellte er vor, wie die „Weisheit und Torheit“, aber auch Ursachen, die Täter zu „bösen Taten“ führten. Auch verlas Prof. Ebert Auszüge aus Schillers Werk „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, erläuterte Hintergründe, den Inhalt der Erzählung, vor allem aber Auszüge über die Entstehung des dargestellten Verbrechens.
Schiller beschäftigte sich auch im Drama „Die Räuber“ mit dem Thema „Vergeltungsstrafe“, widmete sich der Frage: Was sah er als Vergeltung für begangenes Verbrechen an? Die Todesstrafe lehnte er ab. Für Schiller galt: Verbrecher mit „Menschlichkeit“ zu begegnen.
Zu dieser einführenden Thematik führte Prof. Ebert Folgendes aus.
In seinen Werken, besonders den Dramen und Erzählungen, zeigt Friedrich Schiller ein auffallend großes Interesse an Verbrechern. Über die Gründe für dieses Interesse gibt er selbst, vor allem in seinen theoretischen Schriften, Auskunft. Demnach sind es teils ästhetische, teils psychologische Gründe, die den Verbrecher für Schiller so attraktiv machen.
Den Grund für diese Abweichung des moralischen Urteils vom ästhetischen und für das ästhetische Vergnügen am großen Verbrecher sieht Schiller in der Schrift Über das Pathetische in Folgendem: Bei der moralischen Beurteilung sehen wir auf die Forderung der Vernunft, dass moralisch gehandelt werde; hier herrschen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit. Bei der ästhetischen Beurteilung sehen wir dagegen auf die Kraft und auf die Freiheit, mit der gehandelt wird; denn hier herrscht das Bedürfnis der Einbildungskraft, deren Interesse es ist, „sich frei von Gesetzen im Spiele zu erhalten“.
Unter Schillers Dramenfiguren, die den Typus des willensstark aus Freiheit handelnden, dadurch großen und interessanten Verbrechers repräsentieren, hob Ebert zwei hervor, denen die geschilderte Ambivalenz des erhabenen Charakters, das Potential sowohl zum großen Bösen wie zum großen Guten, eigen ist. Die eine dieser Figuren ist Karl Moor. Die andere Figur ist Fiesco, der im Verlauf des Dramas eine Kehrtwendung vollzieht. Auch Fiesco ist ein Held, der seinem Charakter nach entweder ein Brutus oder ein Catilina werden kann, und mit nicht zu überbietender Deutlichkeit demonstriert Schiller die beiden Potentiale durch die beiden gegensätzlichen Dramenschlüsse.
Doch nicht nur als Freiheitsenthusiast, Idealist und Dramatiker fühlt Schiller sich zum Verbrecher hingezogen, sondern auch als Psychologe. Zu den außergewöhnlichen Lebensläufen, die sich nach Auffassung jener Zeit besonders dazu eigneten, die Natur des Menschen, seine Seele und deren Triebkräfte zu erforschen, gehörten die Biographien von Abenteurern, Selbstmördern und Verbrechern. Er hat in den Jahren 1792 bis 1795 einen eigenen „Pitaval“, eine Sammlung mit dem Titel Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit herausgegeben. Der empirischen Erkundung der Seele, der psychologischen Analyse namentlich von Verbrechern, also der Kriminalpsychologie, gilt auch nach Schulzeit und Medizinstudium Schillers bevorzugtes Interesse. Es schlägt sich in seinem literarischen Werk nieder, und zwar durch alle Gattungen: von den Dramen über die Erzählungen, die Gedichte und die historischen Schriften bis hin zu den Schriften über Ästhetik. Die Verbrechererzählung geht also den Gedanken des Täters und den sie bewegenden äußeren, insbesondere sozialen Umständen als Ursachen des Verbrechens nach – Psychologie und Soziologie als Kriminalätiologie (Verbrechensursachenerforschung).
In seiner Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre hat Schiller diesen ätiologischen Ansatz exemplarisch durchgeführt. Eine wahre Geschichte nennt deshalb Schiller seine Erzählung im Untertitel – des Räubers Friedrich Schwan (1729-1760), des berüchtigten „Sonnenwirtes“. Friedrich Schwan heißt in Schillers Erzählung Christian Wolf. Schiller beschreibt in dieser Erzählung die kriminelle Karriere eines Menschen und benennt die Ursachen, die zu ihr geführt haben. Die Ursachen liegen einerseits in seelischen Zuständen, inneren Triebkräften und Willensentschlüssen des Täters, andererseits in äußeren Umständen, die als objektive Rahmenbedingungen der Taten fungieren, aber auch ihrerseits zu den subjektiven Gemütszuständen und Willensentschlüssen des Täters beitragen.
Bemerkenswert ist der ursächliche Anteil sozialer Faktoren. Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft, ja auch durch die Justiz selbst, gesellschaftliche Rollenzuschreibung und Übernahme der zugeschriebenen Rolle durch den Täter werden als kriminogene Faktoren herausgearbeitet. Damit weist Schiller auf moderne Kriminalitätstheorien voraus. Dieses „wechselseitige[…] Sich-Aufschaukeln[…] von Straftaten auf der einen Seite und gesellschaftlichen sowie amtlichen, also informellen und formellen, Reaktionen auf der anderen Seite“ stellt sich in Schillers Erzählung bei Christian Wolf folgendermaßen dar: Aufgrund niedriger sozialer Herkunft und bescheidener wirtschaftlicher Verhältnisse, aber auch wegen seines abstoßenden Aussehens erfährt Wolf schon früh Zurückweisung in seiner Umgebung. Ungeschickte Versuche, sich Zuneigung zu ertrotzen, verschlimmern seine Lage nur, und im Bestreben, sich die Zuneigung zu erkaufen, gerät er auf die kriminelle Bahn. Mehrfache strafgerichtliche Verurteilungen wegen Wilddieberei und ein längerer Gefängnisaufenthalt treiben seine soziale Entwurzelung weiter voran, indem sie seine Seele verwüsten, ihn seiner Umgebung immer mehr entfremden und die Gesellschaft zu immer heftigerer Zurückweisung, Stigmatisierung und Ausgrenzung seiner Person veranlassen. Seine Verzweiflung nötigt Wolf, die ihm von der Gesellschaft zugeschriebenen Eigenschaften in sein Selbstbild zu übernehmen und die ihm zugeschriebene Rolle zu spielen. Er will nun Böses um des Bösen willen tun. „Ich wollte mein Schicksal verdienen“. Durch den am Nebenbuhler begangenen Mord wird eine Rückkehr in eine ehrbare bürgerliche Existenz vollends ausgeschlossen. Der Mord treibt Wolf in die Arme einer Räuberbande, als deren Anführer er seine kriminelle Karriere beschließt.
Somit verweist Schiller auf die prinzipielle Offenheit jedes Lebenslaufs für kriminelle Episoden oder Karrieren, auf die allgegenwärtigen und jederzeitigen Anfechtungen und Versuchungen, die in Verbindung mit psychischen Dispositionen jeden Menschen in die Gefahr bringen können, kriminell zu werden. Doch nicht auf die Ehrlosigkeit als Folge der Verbrechen kommt es Schiller in der Erzählung an, sondern auf das Umgekehrte: auf die Verbrechen als Folge der Ehrlosigkeit. Nicht die Ursächlichkeit der Verbrechen für den Verlust der Ehre, sondern die Ursächlichkeit des Ehrverlusts für die Verbrechen ist das Thema der Erzählung. Was Christian Wolf im Laufe der Zeit verliert, ist nicht nur seine äußere Ehre, die Achtung seitens der Gesellschaft, sondern auch seine innere Ehre, seine Selbstachtung. Weil er keine Ehre mehr beanspruchen kann, lernt er die Ehre zu entbehren, gibt er schließlich alle Ansprüche an sich selbst, ehrenhaft zu leben, auf. Wem es auf die eigene Ehre nicht ankommt, wer sich selbst für ehrlos hält, der braucht sich auch nicht zu schämen.
Freilich gewinnt Wolf vorübergehend seine äußere und innere Ehre wieder, nämlich mit der Aufnahme in die Räuberbande, die ihn sogleich zu ihrem Anführer wählt. In dieser kriminellen Gemeinschaft erfährt der aus der Gesellschaft Ausgestoßene herzliches Willkommen, Zuwendung, Vertrauen, Achtung, Bewunderung. Doch es ist die Anerkennung durch eine Parallelgesellschaft, eine verbrecherische Subkultur, welche die gesellschaftliche Außenseiterrolle, das Ausgestoßensein aus der ehrbaren bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhebt, sondern nur bekräftigt. Auch wenn somit das Gute im Menschen hier nicht zum äußeren Sieg führt, so ist es doch als solches vorhanden. Der Mensch hat die Kraft, auch gegen widrige Umstände seine sittliche Freiheit und seine Existenz als moralisches Subjekt zu behaupten. Das macht Schiller in Übereinstimmung mit seinem von ihm auch sonst vertretenen Menschenbild in dieser Erzählung deutlich. Bezeichnend ist aber, woran der Sieg des Guten über das Böse am Ende scheitert: Es ist die Gesellschaft – hier in Gestalt des Landesherrn als ihres obersten Repräsentanten – , welche die kriminelle Laufbahn des Protagonisten diesmal zwar nicht befördert, aber ihre Beendigung verhindert. Und so bleibt denn der gesellschaftskritische Duktus der Erzählung bis zum Ende erhalten.
Was hätte der Blick der Richter in die „Gemütsverfassung des Beklagten“, was hätte die Berücksichtigung des Anteils, den die Gesellschaft zu den Verbrechen des Sonnenwirts beigetragen hatte, und was hätte die Beachtung der Auswirkungen des harten Strafvollzugs auf die Psyche und das weitere Leben des Verurteilten für die strafrechtliche Behandlung des Delinquenten bedeutet? Die Antwort kann nur sein: Verständnis, Nachsicht, eine mildere und hilfreiche Strafe. Eine Strafe, die den psychischen und sozialen Ursachen des Verbrechens sowie der Mitverantwortung der Gesellschaft Rechnung trägt; die weniger auf die Tat als auf den Täter sieht; die dem Verurteilten hilft, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden und nicht mehr straffällig zu werden; und die ihn mit der Gesellschaft aussöhnt. Mit seiner dem modernen Resozialisierungskonzept nahekommenden Auffassung von der Behandlung und Bestrafung der Verbrecher ist Schiller ganz Aufklärer. Nach den Vorstellungen der Aufklärung ist der Staat eine Zweckanstalt zur Beförderung des Glücks und der Vollkommenheit des Einzelnen. Der so verstandene Staat hat die Aufgabe und die Befugnis, den vom Pfad der Tugend abgewichenen Bürger auf diesen Pfad – notfalls mit Zwang – zurückzuführen.
Schiller lehnt auch, einer in der Aufklärung verbreiteten Tendenz entsprechend, in seiner Vorlesung Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon die Todesstrafe ab.
In Schillers Dramen allerdings zeigt sich, dass das sie bestimmende andersartige Interesse – das ästhetische an Stelle des empirisch-psychologischen – auch die Auffassung von der Strafe verändert. Den Kant’schen Vergeltungsgedanken, den Schiller in seinen Erzählungen und historischen Schriften zugunsten einer spezialpräventiven Strafkonzeption ablehnt, sehen wir in seinen Dramen durchaus am Werk. Und dies nicht von ungefähr. Denn für die dramatische Gestaltung ist die vergeltende Funktion der Strafe ein höchst geeignetes Element. Als Vergeltung ist die Strafe Manifestation der Gerechtigkeit, welche die durch das Verbrechen gestörte Ordnung wiederherstellt. In diesem Sinne überliefert in den Räubern Karl Moor sich am Ende der Justiz, um die mißhandelte Ordnung [zu] heilen.
Auch Die Braut von Messina handelt von der vergeltenden Strafe. Der Brudermörder Don Cesar fügt die Todesstrafe als die einzig gerechte Form der Schuldvergeltung sich selbst zu.
Neben dieser objektiven hat die Vergeltungsstrafe auch eine für dramatische Gestaltung äußerst wirksame subjektive Funktion. Während sie dem Verbrecher seine böse Tat objektiv gerecht vergilt, bringt sie dem reuigen Täter subjektiv die ersehnte Sühne für seine Schuld, die Beendigung seiner Gewissensqual. So besonders eindrucksvoll im Drama Maria Stuart. Maria akzeptiert die Todesstrafe, die wegen des von ihr nicht begangenen Hochverrats gegen sie verhängt worden ist, als Strafe für den zuvor von ihr an ihrem Gatten begangenen Mord und gelangt so zur Sühnung ihrer Schuld, zur moralischen und religiösen Entlastung, zur Katharsis.
Am Ende seines Vortrages antwortete Prof. Ebert auf Fragen.
Renate Dalgas