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7. Juni 2012, Vortrag von Dr. Jürgen Klose

erstellt am: 07.06.2012 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

„Der sanfte Nachsommer der deutschen Klassik. Adalbert Stifter.“, Vortrag von Dr. Jürgen Klose, Dresden

 

Kurzfassung Vortrag Dr. Jürgen Klose, Dresden

 

Adalbert Stifter (1805 – 1868), österreichischer Schriftsteller. Er erkannte im Stillen und Unscheinbaren das Große und Edle. Er war dem Goetheschen Humanismus verpflichtet und stellte in seinen Natur- und Menschenbildern die klare Rangordnung einer sittlichen und schönen Welt der „elenden Verkommenheit“ des unzulänglichen Wirklichen entgegen.

Zu seinen Hauptwerken zählen: die Erzählsammlungen „Studien“, darin „Der Hochwald“, weiterhin die Romane „Der sanfte Nachsommer der deutschen Klassik“ und „Witiko“, Novelle „Der Bergkristall“..

 

Zum Vortrag: Nach einem Abschweif zum gleichnamigen Film, ging der Referent auf die Novelle „Bergkristall“ ein, die sich in den „Studien“ findet. Er zitiert (leicht gekürzt): Im Sommer 1845 machte Stifter mit seiner Frau eine Reise ins Salzkammergut und traf dort den 32-jährigen Naturforscher Friedrich Simony. Dieser erzählte über einen Spaziergang bei Regen in das Echerntal. Dort fanden sie ein „pausbäckiges, freundlich blickendes Kinderpaar, mit riesigen Filzhüten auf den kleinen Köpfen und mit regendurchtränkten Grastüchern über dem Rücken“, das Erdbeeren anbot. Stifter kaufte, ließ die Kinder die Erdbeeren selbst essen und fragte sie, wo sie während des Unwetters gewesen seien. Sie erzählten, dass sie am Morgen zur Wiesalpe gegangen seien, um dem Großvater das Essen zu bringen. Wie das Wetter gar „so garstig getan“, seien sie unter einen überhängenden Felsen gekrochen, bis es nicht mehr blitzte und donnerte.“ Der Bergkristall erlaubt Kindern, die ihn finden, beim Berggeist zu bleiben. Dazu mussten sie zwar sterben, durften aber stets ihre Eltern in deren Träumen besuchen.

Hier wird bereits eine typische Stifter’sche Rollenverteilung offenbar, und zwar schon in den Namen. Konrad ist ein „kühner Ratgeber“, Sanna, abgekürzt aus Susanna, heißt in der Sprache des Alten Testaments „Lilie“, also unschuldig jungfräuliche Liebe. Hier wie auch im „Nachsommer“ legt Stifter seinen Frauenfiguren die Bekenntnisse zu häuslicher, resignativ-gesicherter Lebensführung in den Mund. Stifters „Bergkristall“-Mutter, die erwähnte, erwachsen gewordene Sanna,  war „wegen ihrer Schönheit weit und breit berühmt, aber auch wegen ihrer Eingezogenheit, Sittsamkeit und Häuslichkeit belobt.“

In diese altväterliche Idylle mit sittsamer Hausfrau tritt nun die Katastrophe. Sanna bleibt in der abgelegenen Gegend stets eine „Fremde“. Ihr Mann Sebastian erweist sich als provozierender Hallodri „von Welt“. Bevor er sein Haus übernahm, war er sogar ein wilder Gemswildschütze gewesen. Er war zudem auf allen Tanzplätzen und Kegelbahnen zu sehen. Nach dem Tod seiner Eltern tritt ein scheinbarer Wandel ein, der aber nur die andere Seite seines exzentrischen Wesens zeigt. Vom Vater hat er das Schusterhandwerk erlernt, er mausert sich nun zum Unternehmer, dessen Qualitätsprodukte – und das ist neu – nicht nur im Heimatort Gschaid, sondern auch in den Nachbarorten Abnehmer finden. Ein solcher Mann konnte es wagen, bei einem wohlhabenden Färber um die Hand der Tochter anzuhalten. Wir ahnen: Die entsagungslose Leidenschaft des Vaters droht sich an seinen Kindern zu rächen. Eine ähnliche Situation wird auch im „Nachsommer“ geschildert.

So ist es bei Stifter immer wieder. Dazu einige Beispiele.  Im „Nachsommer“ erzählt der alte Risach dem jungen Drendorf, wie die junge Tochter des Hauses (Mathilde) und er, der brüderlich aufgenommene Hauslehrer, dereinst füreinander entbrannt und an der ordnenden Vernunft gescheitert waren. In Stifters Erzählung „Mappen meines Urgroßvaters“ verliert der junge Arzt Augustinus die Obristentochter Margarita auf Jahre, weil er sich ihr mit unbegründeter Eifersucht intensiv genähert hat. Aus den „Annalen der Narrenburg Rothenstein“ erfahren wir vom Grafen Jodok von Scharnast, der eine indische Paria (Unberührbare niedrigster sozialer Stellung) zu seiner Gattin machte. Sich keiner Schuld bewusst, gab sie dem Drängen ihres Schwagers Sixtus nach, sie endete im Gram. Sixtus zerschmetterte sich mit einer Kugel das Gehirn, Jodok wählt das Dasein eines Eremiten im eigenen Haus. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.

Doch zurück zum „Bergkistall“. Selbst das soeben skizzierte Leidenschaftsmotiv reichte Stifter nicht hin für die poetische Begründung des drohenden weißen Todes der Kinder am eisigen Berg. Es bedurfte noch des soziologischen Aspekts. Folglich geraten die Kinder unschuldig in die Mühlen des die Welt zerreißenden ökonomischen Fortschritts. Die alte Großfamilie ist aus den Fugen, jeder Einzelne sorgt aus eigener Kraft für sein soziales Geschick. Dies kommt in der Erzählung zum Ausdruck. Dort heißt es: „Der Färber war ein Mann, der seinen Kopf hatte. Ein rechter Mensch, sagte er, müsse sein Gewerbe treiben, dass es blühe und vorwärts komme, er (der Schuster) müsse daher sein Weib, seine Kinder, sich und sein Gesinde ernähren.“ Zudem müsse er allerdings noch ein Erkleckliches erübrigen, welches ihm Ansehen und Ehre in der Welt zu geben vermöchte. Dies stellt der Färber seinem Schwiegersohn hinsichtlich des Erbes zur Bedingung. Gschaid ist ein armes Dorf, was Stifter mit dem alten Tobias illustriert, der „ist umringt von Schuhen und Bundschuhen, die aber sämtlich alt, grau, kotig und zerrissen sind“. Dagegen stellt sich der Nachbarort des Färbers als „stattlicher Marktflecken“, als „sehr groß“ und „wohlhabend“ dar. Der Färber hat nicht nur die schönste Tochter, sondern auch ein „sehr ansehnliches Gewerbe“ und arbeitet „mit vielen Leuten und sogar, was im Tale etwas Unerhörtes ist, mit Maschinen“. Der Färber hat die industrielle Revolution in die idyllische Bergwelt geholt, er ist weit und breit der erste Fast-Industrielle.

Doch auch die Familie des Frühkapitalisten trifft das alltägliche menschliche Ungemach. Die Großmutter, die „mit wahrlich krankhafter Sehnsucht nach ihren Enkeln“ verlanget, kam zunächst sehr oft nach Gschaid herüber, doch das Alter und die Gesundheitsumstände verhinderten sie schließlich, so dass wenig vernünftig die Kinder auf den Weg hinüber geschickt wurden. Einmal müssen sie von den Gschaidern regelrecht gerettet werden. Bezeichnend: Der Färber macht sich zwar ebenfalls auf den Weg, doch kommt er nur noch hinzu.

Stifter bedauert wohl die Aufhebung der Leibeigenschaft, die patriarchalischen Verhältnisse auf dem Land, wo zu seiner Zeit die meisten Österreicher lebten. Ihm sind ebenso – Erfahrung aus der 1848-er Revolution – staatsgefährdende Leidenschaften zuwider. Ökonomischen Neuerungen im Gefolge einsetzender Industrialisierung steht er äußerst skeptisch gegenüber. So heißt es im „Nachsommer“: „… das Gut war sehr herab gekommen. Mathilde fing damit an, dass sie die zum Schlosse gehörigen Untertanen, welche Zehnte und Gaben in dasselbe zu entrichten hatten, gegen ein vereinbartes Entgelt für alle Zeiten von ihren Pflichten entband und sie zu unbeschränkten Eigentümern auf ihrem Grunde machte. Das Zweite, was sie tat, bestand darin, dass sie die Liegenschaften des Schlosses selber zu bewirtschaften begann, dass sie einen geschlossenen Hausstand von Gesinde und ihrer eigenen Familie begründete, und mit diesem Hausstande lebte.“

Auch die allmählich möglich werdenden Eheverbindungen zwischen Adel und Bürgertum sind ein Thema. Im „Nachsommer“ ist nur noch einer von Adel, der Freiherr von Risach. Er ist lediglich der Schöpfer der Verbindung des gebildeten Wiener Kaufmannssohns Heinrich Drendorf mit der italienisch-antik erscheinenden Tochter Natalie. Sich dem Vater Heinrichs gleichstellend, entsagt Risach seinem ohnehin nicht alten Titel, aufgehend in einer bürgerlichen Familie. Zu dem jungen Paar gewendet, schließt er: „Alles wird gut!“

So hätte auch die Erzählung „Bergkristall“ enden können, wenn es Erzählperspektive und Stil hergegeben hätten. Aber diese Erzählung fällt durch ein Weiteres auf: durch Stifters irritierende Naturgemälde, wie er ja auch ein talentierter Landschaftsmaler war. Gleichermaßen war er ein leidenschaftlicher Naturforscher, insonderheit Mineraloge. Und er knüpft Religiös-Mystisches daran.

Dazu noch wenige Passagen aus dem „Bergkristall“:

„Die Kinder blieben mit offenen Augen sitzen und schauten in die Sterne hinaus. Auch für die Augen begann sich etwas zu entwickeln. Wie die Kinder so saßen, erblühte am Himmel vor ihnen ein bleiches Licht mitten unter den Sternen und spannte einen schwachen Bogen durch dieselben. Es hatte einen grünlichen Schimmer, der sich sachte nach unten zog. Aber der Bogen wurde immer heller und heller, bis sich die Sterne vor ihm zurück zogen und erblassten. Auch in anderen Gegenden des Himmels sandte er einen Schein, der schimmergrün sachte und lebendig unter die Sterne floss. Dann standen Garben verschiedenen Lichtes auf der Höhe des Bogens wie Zacken einer Krone und brannten. Es floss helle durch die benachbarten Himmelsgegenden, es sprühte leise und ging in sanfte Zucken durch lange Räume. Hatte sich nun der Gewitterstoff des Himmels durch den unerhörten Schneefall so gespannt, dass er in diesen stummen herrlichen Strömen des Lichtes ausfloss, oder war es eine andere Ursache der unergründlichen Natur, nach und nach wurde es schwächer und immer schwächer, die Garben erloschen zuerst, bis es allmählich und unmerklich immer geringer wurde und wieder nichts am Himmel war als die tausend und tausend einfachen Sterne.

Die Kinder sagten keines zu dem andern ein Wort, sie blieben fort und fort sitzen und schauten mit offenen Augen in den Himmel.“

Dass sich der Mensch angesichts des überwältigenden Kosmos klein fühlt, hat Stifter immer wieder vor Augen geführt. In der „Mappe meines Urgroßvaters“ lässt er den jungen Arzt Augustinus in einer heilsamen Lebenskrise tröstend sagen: „Das Geschick fährt in einem goldenen Wagen. Was durch die Räder niedergedrückt wird, daran liegt nichts. Wenn auf einen Mann ein Felsen fällt oder der Blitz ihn tötet, und wenn er nun das alles nicht mehr wirken kann, was er sonst gewirkt hätte, so wird es ein anderer tun. Wenn ein Volk dahin geht und zerstreut wird und das nicht erreichen kann, was es sonst erreicht hätte, so wird ein anderes Volk ein Mehreres erreichen. Und wenn ganze Ströme von Völkern dahin gegangen sind, die Unsägliches und Unzähliges getragen haben, so werden wieder neue Ströme kommen und Unsägliches und Unzähliges tragen und wieder neue, und wieder neue, und kein sterblicher Mensch kann sagen, wann das enden wird.“

 

Diese Gedanken auszuhalten, dazu ist kein Mensch gemacht. Auch die kleine Sanna in Stifters „Bergkristall“ muss dies instinktiv gefühlt haben. Die große Himmelserscheinung in der kalten Nacht wird Sanna sogar zum naiven Bild des wunderbaren Heilands.

„Mutter, ich habe heute nachts, als wir auf dem Berge saßen, den heiligen Christ gesehen.“ – „O, du mein geduldiges, du mein liebes, du mein herziges Kind“, antwortete die Mutter  „er hat dir auch Gaben gesendet, die du bald bekommen wirst.“

 

Spätestens jetzt muss man sich nicht mehr fragen, warum es in Stifters „Bergkristall“ keinen Bergkristall gibt.

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