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„Die Modernität von Goethes Werther“,

erstellt am: 04.09.2013 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

Vortrag von Prof. Uwe Hentschel, Berlin, am 4. September 2013

„Werther“ ist ein empfindsamer Roman. Seinerzeit wurde er unter dem Aspekt der Trivialisierung gelesen. Hentschel beschäftigt sich mit dem Text als Literaturhistoriker und hebt auf Allgemein-Menschliches ab. Können wir dem Text den Aspekt Modernität auferlegen? Was ist Modernität?
Der Begriff „Moderne“ stammt aus der Literatur, er wurde von Eugen Wolf 1886 geprägt. Nach dem Krieg von 1871 und mit den Gründerjahren verändert sich vieles in Deutschland. Die Städte explodieren. Es gibt viel Neues, auf das die Literatur Bezug nimmt. Allerlei „Ismen“ entstehen, zum Beispiel Naturalismus, Expressionismus, Dadaismus. Diese Prozesse beziehen wir auf die Moderne. Aber: Gab es die „Moderne“ nicht schon Ende des 19. Jahrhunderts?
Man mnuss durchaus nicht in modernen Verhältnissen leben, um modern zu denken. Noch altertümlich vorherrschende Verhältnisse vermögen durchaus, moderne Gesinnungen zur produzieren. Dies ist auch beim „Werther“ der Fall. Poetisierender individualistischer Geist schafft gegen nüchternen Gemeinsinn ein Spannungsfeld. Dichter nehmen ihre Begriffe aus der Natur (gemeint in weiterem Sinne); entweder setzen sie die Begriffe hierzu selbst oder begeben sich auf die Suche. Goethe und Schiller suchten dieses Idealische in der Antike. Hier herrscht noch eine sinnliche Einheit, Vernunft und Gefühl haben sich noch nicht getrennt ‚(naive, gleich nachahmende Dichtung). In der Gegenwart sieht dies anders aus: In ihr herrschen Entfremdung, Vereinzelung. Daraus erwächst das Bemühen, die ursprüngliche Einheit wieder zu erreichen (sentimentalische, gleich reflektierende Dichtung). Auf diesem Feld beginnt somit schon Ende des 18. Jahrhunderts die Moderne. Sie ahmt die homerische Betrachtung der Welt nach und wird auf diese Weise klassisch. Die Suche nach der Natur des Eigentlichen ist der wahre Beruf des Dichters; alles andere, im heutigen Sinne auch die belanglosen trvialen Fernsehprogramme der Privaten, sind nichts als geistloser Sinnengenuss, wo der Mensch nie zu sich kommen kann.
Moderne Dichter müssen sich folglich auf die Suche begeben, das Gegenbild zur Wirklichkeit – das Ideal – auf elegische idyllische oder satirische Weise gestalten. Die Elegie betrauert den Verlust, die Idylle zeigt das Vergangene, das noch im Bewusstsein existiert, die Satire kritisiert (und belustigt sich über) den Gegensatz. Im Schiller’schen Sinne gilt es immer, das Ideale zu bewahren. Ab diesem Punkt beginnt moderne Literatur. Somit ist der „Werther“ schon ein moderner Roman. Dadurch werden Gegenbilder geschaffen zum funktionierenden zivilisierten Europäer. Die Gegenbilder sprechen eigentlich gegen die bestehende Welt, weil sie solcher Gegenbilder bedarf.
Briefe Goethes zur Werther-Zeit widerspiegeln diesen Anspruch an das Ideale, ebenso „Zum Shakespeare-Tag“. Zu den beklagten Gegensätzen gehört insbesondere der zwischen dem Leben in der Stadt und auf dem Lande.
Dem prätendierten Ich folgt unweigerlich das Scheitern. Das Ideal wird postuliert, der notwendige Gang der Geschichte schließt sich an. Was ist das moderne Ich? Etwas dieser Welt entgegen zu setzen.
Es gibt Augenblicke in unserem Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Tieren, Landschaften sowie der menschlichen Natur in Kindern, in Sitten des Landvolks und der Urwelt begegnen; nicht, weil sie unseres Sinnen wohltut, auch nicht, weil sie unseren Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegenteil stattfinden), sondern bloß, weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und und rührender Achtung darstellt. Jeder feinere Mensch, dem es nicht ganz und gar an Empfindung fehlt, erfährt dieses, wenn er im Freien wandelt, wenn er auf dem Lande lebt oder bei den Denkmälern alter Zeiten verweilt; kurz, wenn er in künstlichen Verhältnissen und Situationen vom Anblick der harmonischen Natur überrascht wird.
„Wir waren Natur wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen.“ (Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung, 1795)
Die Dichter sind überall, schon ihrem Begriffe nach, die Bewahrer der Natur. Sie werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen (ebd.)
Nochmals zum zusammenfassenden Vergleich: Antike ist das Ideal, die Natur zeichnet sich durch Unschuld, Ganzheitlichkeit aus. Das Naive, Nachahmende führt zur Klassischen Poesie. Dagegen herrscht in der Gegenwart eine Kultur der Vereinzelung und der Entfremdung vor. Daraus resultiert Prosaische Literatur, die vor allem „geistlosen Sinnengenuss“ erzeugt. Andererseits entsteht sentimentalische reflektierende Literatur; eine Moderne Poesie, die sich elegisch, idyllisch oder satirisch gibt.
Schiller meint hierzu: „Solange der Mensch noch reine, es versteht sich, nicht rohe Natur ist, wirkt er als ungeteilte sinnliche Einheit und als ein harmonisierendes Ganze. Sinne und Vernunft, empfangendes und selbsttätiges Vermögen, haben sich in ihrem Geschäfte noch nicht getrennt (…)“ – Anzustreben ist „das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.“ (…) Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten, und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d. h. Nach Einheit strebend sich äußern. Die Ãœbereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken, die in dem ersten Zustande wirklich stattfand, existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm; sondern außer ihm, als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll, nicht mehr als Tatsache seines Lebens.“
B. Kemter

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