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Goethes Mährchen – Es ist an der Zeit

erstellt am: 08.06.2022 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

Vortrag von Dr. Ariane Ludwig, Weimar, am 1. Juni 2022

Einem bunten Figurenensemble – darunter eine Schlange, zwei Irrlichter, mehrere alte Könige und ein alter Mann mit einer Lampe – gelingt es durch das Zusammenwirken der unterschiedlichsten Kräfte und Fähigkeiten sowie im Spannungsfeld vielfältiger Wandlungsprozesse zwischen Leben und Tod, Organischem und Anorganischem einen glücklichen, von einschränkenden Bedingungen freien Zustand herbeizuführen, einen Zustand, in dem individuelles Glück und das Wohlergehen des am Ende in Erscheinung tretenden Volkes harmonisch zusammenklingen und in dem vormals Getrenntes zusammengeführt ist: Verbunden sind am Ende die beiden Ufer eines Flusses durch eine feste Brücke, zu der die Schlange im zum Selbstopfer gesteigerten Ethos des sozialen Helfens geworden ist, und in Liebe vereint sind der Prinz und seine Geliebte – sie erlöst davon, „alles Lebendige durch ihre Berührung“ zu töten, er, dem Leben wiedergegeben, nach einer solchen, in selbstmörderischer Absicht gesuchten Berührung.

Das Mährchen wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (ebenso wie drei andere Geschichten) von einem alten Geistlichen erzählt. Er kündigt es an als „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Goethes Faszination für die Textform Märchen und deren poetische Gestaltung ballt sich kompakt, wenn bei seinem in den Horen veröffentlichtem Mährchen Titel und Genrebezeichnung in eins fallen. Ähnliches kennen wir von späteren Werken Goethes, von seiner Ballade und von seiner Novelle, auch sie prägnant-artikellos wie Mährchen. Von allen Geschichten, die in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erzählt werden, ist das Mährchen die einzige, die einen Titel hat; auch deshalb fällt er, ohnehin schon ungewöhnlich in seiner Artikellosigkeit, besonders auf. Das Mährchen, das ohne einen Titelzusatz wie ‚von der Schlange‘ oder ‚von einem, der auszog, einen breiten Fluss zu überqueren,‘ am Ende eines Werkes steht, in dem viel über Gattungsfragen nachgedacht und gesprochen wird, auch über die Erzählform des Märchens, könnte als Goethes in poetische Praxis umgesetzte, raffinierteste und schwebendste Gattungsdefinition‘ betrachtet werden.

Goethes drei schriftlich festgehaltene Märchen sind in chronologischer Reihenfolge der Entstehung und Publikation: Das Mährchen, Der neue Paris und Die neue Melusine. Bei den letztgenannten ist der jeweilige Erzähler selbst eine Figur der Märchenhandlung. Der alte Geistliche hingegen, der das Mährchen der Unterhaltungen erzählt, tritt im Mährchen selbst nicht in Erscheinung.

Das Mährchen schrieb Goethe im Herbst 1795, im zweiten Jahr seiner Freundschaft mit Schiller und mitten in der Arbeit an seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es erschien 1795 ‚zur Fortsetzung‘ der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in denin diesem Jahr gegründeten Horen. Ebenfalls 1795 erschienen in dieser Zeitschrift u.a. auch Goethes Römische Elegien und Schillers Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Das Mährchen befindet sich also von seiner Entstehung an in bester literarischer und philosophischer ‚Gesellschaft‘, in einer Gesellschaft, in der, sehr vereinfacht gesagt, Fragen der Bildung des Menschen hin zu einem in der Gesellschaft auch politisch mündig agierenden Individuum in unterschiedlichen Formen dargeboten und durchdacht werden. Diese Bildung geschieht durch die verschiedensten Wirkmächte – Liebe, Kenntnis und lebendige Anverwandlung der Tradition, geselliger, geistig-wacher Austausch, philosophische Durchdringungskraft. ,

Friede herrscht nicht zu Beginn von Goethes 1793 spielenden Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der ersten deutschen Novellensammlung nach romanischen Vorbildern. Die bekannteste dieser romanischen Novellensammlungen ist gewiss Giovanni Boccaccios um 1350 entstandenes, Goethe von Jugend an bekanntes Decameron. Doch nicht die Pest, wie im Decamerone, sondern kriegerische Ereignisse lassen in Goethes Unterhaltungen deutsche Aristokraten vor den Revolutionstruppen vom linken Rheinufer auf ihre rechts des Rheins gelegenen Güter fliehen. Mit dem Decamerone haben die Unterhaltungen also gemeinsam, dass sie in einer Krisenzeit entstanden sind und spielen: Goethes Mährchen ist einer Krisen- und Kriegszeit entsprungen.

Die Bedeutung des Offenen seiner Novellensammlung betont Goethe in einem Brief an Schiller aus dem August 1795:

„Ich würde die Unterhaltungen damit [also mit dem Mährchen] schließen, und es würde vielleicht nicht übel seyn, wenn sie durch ein Product der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen.“

Durch dieses offene ‚Ende‘ kann, anders als nach den anderen Geschichten der Unterhaltungen, kein Gespräch zwischen dem alten Geistlichen und seinen Zuhörern über das Mährchen zustande kommen, ein Umstand, der zunächst vor allem dann verwundert, wenn man bedenkt, dass im Mährchen das Gespräch im Verlauf eines Dialogs zwischen der Schlange und einem der Könige, dem goldenen, als „erquicklicher als Licht“ gewürdigt wird.

Vielleicht kann man gerade das Nicht-Geschlossene der Unterhaltungen aber auch im Sinne einer Einladung an jeden Leser dieser Novellensammlung deuten, das Gespräch über das Mährchen zu suchen. Nicht mehr die Figuren der Kunst tauschten sich dann über den von einer Figur aus den Unterhaltungen erzählten Text aus – diese schöne Aufgabe dürfen die Leser nun übernehmen. Dass diese ‚Einladung‘ gerne ‚angenommen‘ wurde, zeigen zunächst Reaktionen von Goethes Zeitgenossen – Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel hatte ich schon genannt.

Goethe stellt 1816, aus der Distanz des Rückblicks, drei sehr unterschiedliche Deutungen aus der Publikationszeit des Mährchens in einer Tabelle zusammen. Da wurden z.B. die Irrlichter als „Leichter Sinn. Das Genie. Bel Esprit. Der Adel“ oder als „Spekulanten. Sophisten“ oder als „Die Stutzer und Schmarutzer“ gedeutet. … Divergent waren die Deutungen von Anfang an. Man ist versucht zu sagen: So wandlungsfähig wie die Gestalten in Goethes Mährchen, so wandlungsfähig sind die Auslegungen und Deutungen, mindestens so wandlungsfähig … Sie reichen „von biographisch-geschichtlichen Ansätzen über psychologische, neuidealistische, ästhetische, anthroposophische, alchimistische“ bis hin zu der u.a. von Friedrich Gundolf vertretenen Position, die „jeden Versuch einer Interpretation“ ablehnt.

Anonym wurden die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten publiziert; Schiller folgte bei diesem Werk Goethes Wunsch, dessen Autorschaft bei keinem seiner Beiträge für die Horen offenzulegen. Im Falle des Mährchens wird dadurch zugleich eine schwebende Balance zwischen der anonymen Autorschaft von Volksmärchen und dem Umstand, dass Goethes Mährchen einen Autor hat, erzeugt.

In einem anderen Punkt als dem der im Anonymen verbleibenden Autorschaft entsprach Schiller Goethes Begehren allerdings nicht: Dieser wollte das Mährchen in zwei Teilen veröffentlichen und schrieb dem Herausgeber Schiller: „Das Mährchen wünscht ich getrennt, weil eben bey so einer Producktion eine Haupt Absicht ist die Neugierde zu erregen.“ Auch in diesem Vorhaben, das scheherazadische Prinzip eines Fabulierens in Abbrüchen und hinausgezögerten Fortsetzungen zu adaptieren, erweist Goethe sich als von seinem ‚Lebensbuch‘ Tausendundeine Nacht angeregter Dichter.

Im Zusammenhang mit später nicht verwirklichten Plänen, einen zweiten Teil der Unterhaltungen zu schreiben, teilt Goethe Schiller im Februar 1798 mit:

„Übrigens habe ich etwa ein halb Dutzend Mährchen und Geschichten im Sinne, die ich, als den zweyten Theil der Unterhaltungen meiner Ausgewanderten, bearbeiten … werde.“

Wenngleich Goethe in seiner Zeit mit Schiller kein weiteres Märchen außer dem in die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten integrierten zu Papier brachte, haben die Freunde sich etwas ausführlicher noch über ein weiteres ausgetauscht:

Im Februar 1797 schreibt Goethe an Schiller: ”Das Märchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.” Es ist die wohl erste Stelle, an der sich Konturen eines Märchens abzeichnen, von dem Goethe später in Dichtung und Wahrheit behauptet, er habe es Friederike Brion und anderen Freunden Anfang der 1770-er Jahre erzählt: Dieses Märchen, Die neue Melusine, wurde allerdings nicht in die Lebensbeschreibung eingefügt. Sie erschien zuerst in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 und auf das Jahr 1819 in zwei Teilen – hier holt Goethe gleichsam nach, was er sich für das Horen-Mährchen gewünscht hatte: ein Märchen in zwei Teilen zu veröffentlichen. Mit der ersten Publikation der neuen Melusine treibt er das Prinzip allerdings auf die Spitze, indem er den Text mitten im Satz, nach einem „Vernimm also“, abbrechen lässt.

,„Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesammten Märchenwelt sein“ schrieb Achim von Arnim im Oktober 1812 an Jacob Grimm. Dass Goethe alle seine Märchen an Erzählerfiguren bindet und sie jeweils in einen größeren epischen Kontext – in eine Novellensammlung, in seine Autobiographie und in einen Roman – integriert, könnte durch ähnliche Einsichten motiviert sein. Vielleicht gelingt es in einem solchen Erzählrahmen annähernd, „die [so diktiert Goethe im April 1831 in sein Tagebuch] reine Unbefangenheit des Mährchens, welche dessen Hauptcharakter ist,“ zu bewahren. Goethes drei Märchen lassen den atmosphärischen Zauber gesellig-lebendigen Erzählens erahnen. Seine Märchen werden – im Rahmen der Fiktion – nicht in gedruckten Buchstaben ‚fixiert‘. Ihnen bleibt eine Form von Freiheit durch die mündlich-lebendige Form, in der sie dargeboten werden.

In Goethes Mährchen treten auf – und allein alle ‚Figuren‘ vollständig aufzuzählen, ist ein Vergnügen: ein Fährmann, zwei Irrlichter, eine Schlange, ein Mann mit einer Lampe, dessen Frau, drei Könige aus Gold, Silber und Erz sowie ein vierter, ein ‚Gemischter‘. Ferner: ein Prinz, die Prinzessin Lilie, drei ihr dienende Frauen, ein Mops, ein Kanarienvogel, ein Habicht, ein Riese und nicht zu vergessen: drei Artischocken, drei Kohlhäupter und drei Zwiebeln. Allein dieses ‚Personenverzeichnis‘ zeigt eine große Erzähllust Goethes.

Alle Figuren und ihr Handeln sind in einem komplexen System von Bedingungen, Wandlungsprozessen, Prophezeiungen und Erfüllungen miteinander verbunden. Alles wandelt sich durch-, mit- und aneinander. Unter den Figuren gibt es keine, die intentional böse ist: Der Schlange ist nichts von der Verführungsneigung ihrer alttestamentarischen Verwandten zu eigen – im Gegenteil, sie, die ausdrücklich zur Entsagung fähige Figur beschrieben wird, ist zum die Brücke ermöglichenden Selbstopfer bereit. Riese und Irrlichter richten zwar allerlei – stets zu behebendes – Unheil an, aber nicht aus böswilliger Absicht. Goethes Mährchen ist eine Erzählung ohne bösen Wolf und ohne hinterlistige Stiefmutter.

Die beiden Irrlichter, welche die Handlung des Mährchens durch ihr Begehren, vom Fährmann über den Fluss geschifft zu werden, in Gang setzen, sind anders als z.B. in Wilhelm Müllers Winterreise, keine Lichtphänomene, die „in die tiefsten Felsengründe“ locken. Sie sind auch nicht wie im Faust dem Dunstkreis der Walpurgisnacht zugeordnet. Als höchst bewegliche, in immerwährender Verwandlung begriffene Gestalten ‚irrlichteliren‘ sie (um dieses schöne Verb aus der Schülerszene des Faust aufzugreifen) durch das Mährchen und haben auch den letzten Auftritt von allen der oben genannten Märchenfiguren. Dass die Irrlichter, die wandelbarsten aller wandelbaren Gestalten in Goethes Mährchen, es durch zwei ihrer vielen Auftritte rahmen, ist bezeichnend.

Goethes Irrlichter ernähren sich von Gold: Haben sie sich sattgegessen, sind sie wohlgenährt, haben sie das Gold in Form von Goldstücken aus sich geschüttelt, wie es ihre Art ist, sind sie mager und klein. Lachend und spielend, meist sehr galant, charmant und gut gelaunt, bewegen sie sich durch das Mährchen, sind durchaus fähig, „feierlich“ aufzutreten, nehmen aber ernsten Situationen durch „krause[] Verbeugungen“ die Schwere und vergeuden am Ende des Mährchens „auf eine lustige Weise“ nochmals Goldstücke.

Nicht zuletzt die Beschreibung der Irrlichter kennzeichnet ein heiter-schwebender Tonfall, dessen Bedeutung Gonthier-Louis Fink betont: „[W]ie dann auch für die Romantiker“ sei der Humor keine „beliebige Beigabe“; er gehöre vielmehr „wesenhaft“ zu Goethes Mährchen, „von der notwendigen Freiheit des Geistes gegenüber der Intrige“ und „gegenüber den politischen Problemen“ zeugend.

Treten wir vom Licht der Irrlichter und deren Heiterkeiten nochmals ins Dunkle zurück:

Goethes Mährchen beginnt [Zitat] „Mitten in der Nacht“ an „dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war“ – eine gewohnte Form ist verlassen, ein bestimmtes Maß überschritten, eine Gefährdung ist spürbar, welcher Art auch immer sie sei – gesellschaftlicher, sozialer, auf die Umwelt bezogener oder politischer; letzteres – richtet man den Fokus auf die Entstehungszeit – in einer Deutung, die in dem über die Ufer getretenen Fluss „ein Bild für die [politische] Revolution“ sieht, wie z.B. Stefan Neuhaus es tut. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die geographischen Räume, in denen Goethe sich viel und gerne bewegte, mag man in dem Fluss die Saale in Jena wiedererkennen, an deren Ufer Goethe während eines Spazierganges Ideen zum Beginn seines Mährchens empfangen haben könnte. Betont man den Umstand, dass das Mährchen zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gehört, wird man wohl sagen: Was den Personen der Rahmenhandlung der Unterhaltungen mit der Flucht über den Rhein gelungen ist, die Überquerung eines Stromes, gestaltet sich für die Figuren des Mährchens schwierig, beeinträchtigen doch verschiedene Gesetze das Leben und den Austausch über den großen Fluss hinweg, Gesetze wie: der Fährmann darf Fahrgäste nur in eine Richtung übersetzen, er darf nur „mit Früchten der Erde bezahlt“ werden, „in der Mittagsstunde“ kann sich die Schlange zur Brücke über den Fluss wölben, der abends auf dem Schatten des Riesen überquert werden kann. Spürt man in der Topographie des Mährchens Rom-Reminiszenzen auf wie einige Interpreten, darunter Katharina Mommsen, es tun, wird Goethes Märchen-Fluss vor dem inneren Auge zum Tiber mit der Engelsbrücke … Dies nur als ein kleiner Eindruck davon, wohin es führt, wenn man nur bei den allerersten vier Worten des Mährchens „An dem großen Flusse“ in die Interpretationsgeschichte eintaucht —

Das Mährchen endet ohne eine konditionale Einschränkung wie ‚und wenn sie nicht gestorben sind‘ mit dem Bild eines lebendig wimmelnden Austauschprozesses über den Fluss hinweg, eine Bewegung, die (Zitat) „bis auf den heutigen Tag“ andauert. Es ist ein opernhaft anmutendes, gleichsam in leuchtendem C-Dur erklingendes Schlusstableau, das, wie Volker Klotz betont, „kein Volksmärchen so kennt“.

Die Zeit, in der das Mährchen spielt, ist eine Zeit der Erwartungen auf Erfüllungen, eine Zeit, die angekündigt wird durch das insgesamt fünf mal wiederholte „Es ist an der Zeit“, eine Wendung, die sich auch in der Bibel findet, z.B. in der Offenbarung des Johannes. Diese Worte, die im Mährchen leitmotivisch, nahezu musikalisch geführt und variiert werden, indem sie von verschiedenen Figuren an verschiedenen Orten gesprochen, ab und zu auch in indirekter Rede wiedergegeben werden, lenken das Augenmerk auf die Bedeutung der Zeit und auf ihr Dahinfließen, ihr Vergehen – die Bedingung für allen Wandel, für alle Verwandlung.

In den mehrfachen Ankündigungen liegt viel, auch die Ruhe der variierten Wiederholung. Die neue Zeit kommt als prophezeite, nicht durch Revolution, nicht in einem Gewaltstreich.

Der im „Es ist an der Zeit“ angekündigte Zustand der Erfüllung findet am Schluss des Mährchens ein wunderbares Korrelat in einer neuen Form der Zeitangabe, in der Zeit und Raum eins werden: Der Riese ist zu einer steinernen Bildsäule geworden: „sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern eingelegt waren.“

Eine Assoziation: Eine neue Zeitrechnung führte auch der französische Revolutionskalender ein – aber das war sicher keine, die in einer ‚edlen‘ Sprache der (Bildenden) Kunst Ausdruck fand.

Der harmonische Schlussakkord des Mährchens kann auch deshalb erklingen, weil es von dem belebt ist, was Goethe gegenüber Schiller einmal als (eine) „Idee“ des Mährchens bezeichnet hat:

„das gegenseitige Hülfleisten der Kräfte und das Zurückweisen aufeinander“.

Oder, mit den Worten des Alten mit der Lampe: „[E]in einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“

In diesen Kontexten kann auch der in den Xenien veröffentlichte Zweizeiler „Das Märchen“ verstanden werden:

Mehr als zwanzig Personen sind in dem Mährchen geschäftig.

‚Nun, und was machen sie denn alle?‘ Das Mährchen, mein Freund.

Leichtfüßig tritt dieses Epigramm heiteren Tonfalls ein für die Autonomie der Kunst, die sich um 1800 als eigenständiges System intensiv selbst zu betrachten beginnt.

Angeregt durch Hartmut Reinhardts schönen Aufsatz „Lizenz zum Spielen“ kann man dieses gegenseitige Helfen auch als etwas verstehen, das Gewalt und Revolution verhindert: Jeder trägt bei, was er vermag, aber jeder nimmt sich und sein Begehren gleichzeitig zurück, bändigt seine Leidenschaften und Triebe, auf dass sie nicht in verderblichen Revolutionen ihre Explosivkraft entfalten.

Goethes Mährchen gelingt es, diese Teilsysteme zu einem sinnhaften Ganzen zusammenwirken zu lassen. Was zum Auseinanderfallen tendiert, denkt sein Text zusammen. Ist dieses Zusammenwirken, das auch bedeutet, dass das Glück der Einzelnen mit dem der Gesellschaft korrelierbar ist, ist dieses Zusammenwirken in die Gestalt eines Märchens gekleidet, weil es für ein zunehmend Unverwirklichbares gehalten werden muss, oder weil das Märchen die Form ist, in der sich am ‚zartesten‘ darüber sprechen lässt?

Schauen wir zum Abschluss noch auf einen humorvollen Umgang mit dem Mährchen:

Ende September 1795 äußerte Goethe in einem Brief an Schiller: „Ich hoffe die 18 Figuren dieses Dramatis sollen, als soviel Rätzel, dem Räzelliebenden willkommen seyn.“.

Diese Hoffnung erfüllte, ja übererfüllte als einer der ersten der kunst- und feinsinnige Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg. Im Dezember 1795 schreibt er Goethe einen langen Brief, in dem er in humorigem Ton die Idee vorbringt, der Verfasser des Mährchens könne kein anderer als der Evangelist Johannes sein, der demzufolge logischerweise noch leben müss.

Auf 99 Deutungen wolle Goethe warten: Die mit der Märchenzahl ‚drei‘ spielende Zahl 99 deutet auf ein Inkommensurables, auf etwas, das sich verfügendem Zugriff entzieht.

In diesem Warten-Wollen liegen Geduld und Ruhe, ebenso wie ein gründliches Rätselraten Zeit erfordert – und ein genaues Hinschauen, ein Sich-Hinneigen, ein Sich-Zuwenden zum Objekt der Rätselfreuden.

Heiterkeit und die Ruhe des Rätselratens: Ihnen wohnt nichts von dem Absolutheitsanspruch einer ‚richtigen‘ Deutung inne. Heiterkeit und Rätselraten sind keine revolutionären Bewegungen. Liegt auch in einem heiteren, rätselfrohen Umgang mit dem Mährchen etwas, das subtil als ein Einspruch gegen alles, was zu schnell, was zu ‚velozieferisch‘ ist, ein Vorbehalt gegenüber revolutionären, gegenüber gewaltsamen Ereignissen?

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