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Goethes Mährchen – Es ist an der Zeit

erstellt am: 08.06.2022 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

Vortrag von Dr. Ariane Ludwig, Weimar, am 1. Juni 2022

„Goethes Märchen“ – der erste Teil des Titels meiner Ausführungen hat den Vorteil, dass er sich nicht genau festlegt. Man kann ihn auf dreierlei Weise verstehen: ganz allgemein als ‚Märchen aus verschiedenen Ländern und Zeiten, die Goethe las, schätze, nacherzählte und von denen er sich inspirieren ließ,‘ oder als ‚alle Märchen, die Goethe verfasst hat,‘ und (3.) als ‚Goethes Mährchen‘‚ wobei ‚Mährchen‘ der artikellose Titel des kostbaren Textes ist, aus dem das Zitat „Es ist an der Zeit“ stammt. Goethe veröffentlichte dieses Mährchen 1795 „zur Fortsezung“ seiner Novellensammlung Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten im Oktoberheft des ersten Jahrgangs der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen.

Alle drei der genannten Möglichkeiten, den Vortragstitel ‚Goethes Märchen‘ zu verstehen, werden in meinen Ausführungen Berücksichtigung finden. Entsprechend gliedern sich die folgenden Überlegungen in drei Teile:

Zunächst seien mir einige Hinweise zu Goethes lebenslanger Beschäftigung mit Märchen erlaubt, wobei ich von diesem Punkt bereits hin und wieder zu dem Mährchen (also dem aus den Unterhaltungen) hinleuchten möchte. Dann werde ich alle drei Märchen, die Goethe geschrieben hat – das Mährchen, den neuen Paris und die neue Melusine – mit Blick auf strukturelle und entstehungsgeschichtliche Zusammenhänge Revue passieren lassen. Abschließend konzentriere ich mich auf das Mährchen und damit auf diejenige von Goethes Märchendichtungen, die, soweit ich sehe, die lebendigste und schillerndste Rezeptions- und Interpretationsgeschichte hervorgebracht hat.

Gleichsam als ‚Vorspann‘ zu allem Folgenden möchte ich, in sehr geraffter Form, die Handlung von Goethes Mährchen vergegenwärtigen:

Einem bunten Figurenensemble – darunter eine Schlange, zwei Irrlichter, mehrere alte Könige und ein alter Mann mit einer Lampe – gelingt es durch das Zusammenwirken der unterschiedlichsten Kräfte und Fähigkeiten sowie im Spannungsfeld vielfältiger Wandlungsprozesse zwischen Leben und Tod, Organischem und Anorganischem einen glücklichen, von einschränkenden Bedingungen freien Zustand herbeizuführen, einen Zustand, in dem individuelles Glück und das Wohlergehen des am Ende in Erscheinung tretenden Volkes harmonisch zusammenklingen und in dem vormals Getrenntes zusammengeführt ist: Verbunden sind am Ende die beiden Ufer eines Flusses durch eine feste Brücke, zu der die Schlange im zum Selbstopfer gesteigerten Ethos des sozialen Helfens geworden ist, und in Liebe vereint sind der Prinz und seine Geliebte – sie erlöst davon, „alles Lebendige durch ihre Berührung“ zu töten, er, dem Leben wiedergegeben, nach einer solchen, in selbstmörderischer Absicht gesuchten Berührung.

Erwachsen ist dieses neugegründete private und politische Glück auch aus Ehrfurcht, aus dem Respekt vor der Vergangenheit und der Tradition: Der junge Prinz erhält die Insignien seiner Herrscherwürde von dreien der alten Könige, eignet sie sich nicht an in einem revolutionär-gewaltsamen Akt.

Das Mährchen wird in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (ebenso wie drei andere Geschichten) von einem alten Geistlichen erzählt. Er kündigt es an als „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Noch bevor der eigentliche Text des Mährchens beginnt, wird es also als ein ins Offene weisender, sich fixierenden und einengenden Deutungen entziehender, beweglich-bewegender Text charakterisiert. Spielarten dieses ‚Offenen‘ oder ‚Freien‘ werde ich im Zusammenhang mit einer bestimmten Erzählstruktur und auch am Beispiel freier und befreiender Heiterkeit im Mährchen sowie eines humorvoll-tiefsinnigen ‚Umgangs‘ mit diesem Text kurz ‚antupfen‘. Des Weiteren soll einiges, woran das Mährchen ‚erinnern‘ kann, im Folgenden berührt werden, seien es Bezüge zu den Unterhaltungen und anderen Werken der Kunst oder auch solche zur historischen ‚Realität‘.

Durch die fabulierungsfrohe Mutter als Kind schon mit Märchen vertraut, erlas Goethe sich im Laufe seines Lebens neben den ‚Klassikern‘ der Märchenliteratur – den Kinder- und Haus-Märchen der Brüder Grimm und Tausendundeine Nacht zum Beispiel – eine Fülle an Märchenliteratur, darunter die orientalische Sammlung Tûtî-nâmé, das ‚Papageienbuch‘ aus dem 12. Jahrhundert, und Wielands Versmärchen Pervonte oder Die Wünsche.

Goethes Faszination für die Textform Märchen und deren poetische Gestaltung ballt sich kompakt, wenn bei seinem in den Horen veröffentlichtem Mährchen Titel und Genrebezeichnung in eins fallen. Ähnliches kennen wir von späteren Werken Goethes, von seiner Ballade und von seiner Novelle, auch sie prägnant-artikellos wie Mährchen. Von allen Geschichten, die in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erzählt werden, ist das Mährchen die einzige, die einen Titel hat; auch deshalb fällt er, ohnehin schon ungewöhnlich in seiner Artikellosigkeit, besonders auf. Das Mährchen, das ohne einen Titelzusatz wie ‚von der Schlange‘ oder ‚von einem, der auszog, einen breiten Fluss zu überqueren,‘ am Ende eines Werkes steht, in dem viel über Gattungsfragen nachgedacht und gesprochen wird, auch über die Erzählform des Märchens, könnte als Goethes in poetische Praxis umgesetzte, raffinierteste und schwebendste Gattungs‘definition‘ betrachtet werden. Wilhelm von Humboldt wurde durch die Lektüre dieses Textes angeregt, an Theorien und Gattungsfragen zu denken: Im Februar 1796 bezeichnet er in einem Brief an Goethe dessen Mährchen als „das erste Muster dieser Gattung in unserer Literatur“. Es lasse ihn „in eine ordentliche Theorie des Mährchens verfallen“. Wenige Jahre später denkt Novalis die Theorie der Gattung ‚Märchen‘ weiter – und dies ganz sicher inspiriert durch Goethes Mährchen. In seinem Allgemeinen Brouillon notiert Novalis: „Das Mährchen [also die Erzählform ‚Märchen‘] ist gleichsam der Canon der Poësie – alles poëtische muß mährchenhaft seyn.“

Als Dichter und Naturwissenschaftler war Goethe immerfort interessiert an Wandlungen, an Metamorphosen. Denken Sie allein an Gedichte wie Die Metamorphose der Pflanzen (1798) und Metamorphose der Tiere. Ein Tagebucheintrag vom November 1807 zeigt Goethes genauen Blick auf die Transformation von Märchenstoffen und -motiven: „Früh Aladdin, das Märchen im Original gelesen und mit Oehlenschlägers Bearbeitung verglichen“. Das „Original“, mit dem Goethe Adam Oehlenschlägers dramatische Bearbeitung vergleicht, ist die uns allen bekannte Geschichte von Aladin und der Wunderlampe.

Vielleicht, so mag man leichthin spekulieren, hatte Goethe ein besonderes Interesse an der zeitgenössischen Bearbeitung des Wunderlampen-Motivs durch Oehlenschläger, weil er es selbst bereits in seinem zehn Jahre vor dessen Aladdin entstandenen Mährchen auf eine sehr feinsinnige Weise transformiert hatte: Die Lampe des Alten in Goethes Mährchen ist eine Verwandte von Aladins wohltätiger Wunderlampe. Anders als der Riese, der im Aladin-Märchen der Lampe entspringt und durch physische Kraft wirkt, ist es in Goethes Poesie der reine Schein der Lampe, der Wirkungen ausübt: In Gegenwart anderer Lichtquellen „erquickt“ er [so heißt es bei Goethe] „alles Lebendige“ und, wenn kein anderes Licht leuchtet, wandelt sich alles von ihm Erhellte auf sehr unterschiedliche Weise.

Die Liste an Beispielen von Goethes vielseitigen Facetten des Interesses an Märchen, wie es u.a. in Lektüren, Briefen und Tagebuchnotaten zum Ausdruck kommt, ließe sich gewiss so lange verlängern, bis wir auf mindestens 1001 Belegstelle kämen, denn, das dürfte in dieser kurzen tour d’horizon deutlich geworden sein: Goethes „Mährchenvorrath“ war groß.

Das wunderbare Wort „Mährchenvorrath“ verwendet er selbst in Dichtung und Wahrheit im Zusammenhang damit, wie die Lektüre, wie die Rezeption in eine Form von lebendiger Produktion übergehen kann – in dem dort geschilderten Beispiel ist es die des Nacherzählens einer indischen Sage.

Man kann diese Stelle als Affirmation eines engen Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Märchentyp und dem mündlichen Erzählen lesen – und damit sind wir bei einem wichtigen Punkt angelangt, der nicht zuletzt alle drei von Goethe im Rahmen seiner Werke veröffentlichten Märchen miteinander verbindet: Alle sind explizit an eine Erzählerfigur gebunden, es sind, auch wenn sie in gedruckter Form erscheinen, erzählte Märchen.

Goethes drei schriftlich festgehaltene Märchen – und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags – sind in chronologischer Reihenfolge der Entstehung und Publikation: Das Mährchen, Der neue Paris und Die neue Melusine. Bei den letztgenannten ist der jeweilige Erzähler selbst eine Figur der Märchenhandlung. Der alte Geistliche hingegen, der das Mährchen der Unterhaltungen erzählt, tritt im Mährchen selbst nicht in Erscheinung.

Vergleicht man die Titelfügungen von Goethes drei Märchen, ist man vielleicht versucht, als eine Besonderheit des Mährchens die zu benennen, die bereits mit dem Titel beginnt. Er verankert es, gerade auch im Vergleich zum neuen Paris und zur neuen Melusine, in keiner Sukzession, sondern entbindet es aus Prozessen einer zeitlichen Nachfolge und erkennt ihm so dezent und in schönster Unaufdringlichkeit eine auf Dauer gestellte Aktualität zu.

Das Mährchen schrieb Goethe im Herbst 1795, im zweiten Jahr seiner Freundschaft mit Schiller und mitten in der Arbeit an seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. Es erschien, ich wies bereits darauf hin, 1795 ‚zur Fortsetzung‘ der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in denin diesem Jahr gegründeten Horen. Ebenfalls 1795 erschienen in dieser Zeitschrift u.a. auch Goethes Römische Elegien und Schillers Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reyhe von Briefen. Das Mährchen befindet sich also von seiner Entstehung an in bester literarischer und philosophischer ‚Gesellschaft‘, in einer Gesellschaft, in der, sehr vereinfacht gesagt, Fragen der Bildung des Menschen hin zu einem in der Gesellschaft auch politisch mündig agierenden Individuum in unterschiedlichen Formen dargeboten und durchdacht werden. Diese Bildung geschieht durch die verschiedensten Wirkmächte – Liebe, Kenntnis und lebendige Anverwandlung der Tradition, geselliger, geistig-wacher Austausch, philosophische Durchdringungskraft. Vor allem über das Verhältnis des Mährchens zu Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen hat die Forschung intensiv nachgedacht und das Mährchen als „Auseinandersetzung“ mit Schillers Briefen charakterisiert, wobei die Art der ‚Auseinandersetzung‘ sehr unterschiedlich gedeutet wird: Das Spektrum reicht von kritisch bis zustimmend, von einer Interpretation des erlösungsbedürftigen Prinzen als Schiller bis hin zum Verständnis des Mährchens als eines „ästhetischen Spiel[s]“ in Schillers Sinne.

Nicht in den Horen, aber im gleichen Jahr wie das Mährchen veröffentlichte Immanuel Kant seinen ‚philosophischen Entwurf‘ Zum ewigen Frieden. Auch im Titel von Schillers Horen scheint in der revolutionsbewegten Zeit nach 1789 die Idee des Friedens auf, wenngleich nur indirekt: Eunomia, Dike und Eirene (Gute Ordnung, Gerechtigkeit und Frieden) sind die drei Horen, die Töchter des Zeus und der Themis.

Friede herrscht hingegen nicht zu Beginn von Goethes 1793 spielenden Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, der ersten deutschen Novellensammlung nach romanischen Vorbildern. Die bekannteste dieser romanischen Novellensammlungen ist gewiss Giovanni Boccaccios um 1350 entstandenes, Goethe von Jugend an bekanntes Decameron. August Wilhelm Schlegel ist, soweit ich sehe, der erste, der die Unterhaltungen mit dem Decamerone in Verbindung brachte: In diesem Werk der italienischen Renaissance erzählen zehn vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut geflohene Personen sich insgesamt 100 Geschichten. Nicht die Pest, wie im Decamerone, sondern kriegerische Ereignisse lassen in Goethes Unterhaltungen deutsche Aristokraten vor den Revolutionstruppen vom linken Rheinufer auf ihre rechts des Rheins gelegenen Güter fliehen. Mit dem Decamerone haben die Unterhaltungen also gemeinsam, dass sie in einer Krisenzeit entstanden sind und spielen: Goethes Mährchen ist einer Krisen- und Kriegszeit entsprungen.

Ein kurzer Blick ins 20. Jahrhundert: Wenn Gerhart Hauptmann sein Märchen, in dem uns viele von Goethes Märchenfiguren wiederbegegnen, 1941 als, so Hans Mayer, „erschütternde Kriegsdichtung“ schreibt, ‚rezipiert‘ er auch den historischen Entstehungskontext von Goethes Unterhaltungen bzw. des goethischen Mährchens; Hauptmann vermag es, anders als Goethe allerdings nicht, sein Märchen „im Bild sozialer Harmonie“ enden zu lassen. – Ein kurzer Blick ins 21. Jahrhundert: In der Zeit, in der wir leben, nimmt man das (ganz allgemein gesprochen) Verhältnis von Literatur und Krieg vielleicht auf eine andere Art wahr als noch vor einigen Monaten.

Strukturell folgen die Unterhaltungen dem Modell des Decamerone, in eine Rahmenhandlung von verschiedenen Personen erzählte Geschichten zu integrieren – mit einem besonders auffälligen Unterschied: Boccaccios Werk endet mit der Rückkehr in die Rahmenhandlung, die Unterhaltungen hören mit dem Mährchen auf, ohne dass der Erzählfaden der Rahmenhandlung wiederaufgenommen wird.

Die Bedeutung des Offenen seiner Novellensammlung betont Goethe in einem Brief an Schiller aus dem August 1795:

„Ich würde die Unterhaltungen damit [also mit dem Mährchen] schließen, und es würde vielleicht nicht übel seyn, wenn sie durch ein Product der Einbildungskraft gleichsam ins Unendliche ausliefen.“

Durch dieses offene ‚Ende‘ kann, anders als nach den anderen Geschichten der Unterhaltungen, kein Gespräch zwischen dem alten Geistlichen und seinen Zuhörern über das Mährchen zustande kommen, ein Umstand, der zunächst vor allem dann verwundert, wenn man bedenkt, dass im Mährchen das Gespräch im Verlauf eines Dialogs zwischen der Schlange und einem der Könige, dem goldenen, als „erquicklicher als Licht“ (116) gewürdigt wird.

Vielleicht kann man gerade das Nicht-Geschlossene der Unterhaltungen aber auch im Sinne einer Einladung an jeden Leser dieser Novellensammlung deuten, das Gespräch über das Mährchen zu suchen. Nicht mehr die Figuren der Kunst tauschten sich dann über den von einer Figur aus den Unterhaltungen erzählten Text aus – diese schöne Aufgabe dürfen die Leser nun übernehmen. Dass diese ‚Einladung‘ gerne ‚angenommen‘ wurde, zeigen zunächst Reaktionen von Goethes Zeitgenossen – Wilhelm von Humboldt und August Wilhelm Schlegel hatte ich schon genannt.

Goethe stellt 1816, aus der Distanz des Rückblicks, drei sehr unterschiedliche Deutungen aus der Publikationszeit des Mährchens in einer Tabelle zusammen. Da wurden z.B. die Irrlichter als „Leichter Sinn. Das Genie. Bel Esprit. Der Adel“ oder als „Spekulanten. Sophisten“ oder als „Die Stutzer und Schmarutzer“ gedeutet. … Divergent waren die Deutungen von Anfang an. Man ist versucht zu sagen: So wandlungsfähig wie die Gestalten in Goethes Mährchen, so wandlungsfähig sind die Auslegungen und Deutungen, mindestens so wandlungsfähig … Sie reichen „von biographisch-geschichtlichen Ansätzen über psychologische, neuidealistische, ästhetische, anthroposophische, alchimistische“ bis hin zu der u.a. von Friedrich Gundolf vertretenen Position, die „jeden Versuch einer Interpretation“ ablehnt.

Ins ‚Gespräch‘ über das Mährchen kommen auch Dichter und Komponisten wie Novalis,Ludwig Tieck, Gerhard Hauptman, dessen Märchen ich bereits erwähnt habe. Novalis z.B., dessen 250. Geburtstages in diesem Jahr gedacht wird, ist (nicht zuletzt) fasziniert von den leitmotivisch im Mährchen wiederkehrenden Worten „Es ist an der Zeit“.

Anonym wurden die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten publiziert; Schiller folgte bei diesem Werk Goethes Wunsch, dessen Autorschaft bei keinem seiner Beiträge für die Horen offenzulegen. Im Falle des Mährchens wird dadurch zugleich eine schwebende Balance zwischen der anonymen Autorschaft von Volksmärchen und dem Umstand, dass Goethes Mährchen einen Autor hat, erzeugt.

In einem anderen Punkt als dem der im Anonymen verbleibenden Autorschaft entsprach Schiller Goethes Begehren allerdings nicht: Dieser wollte das Mährchen in zwei Teilen veröffentlichen und schrieb dem Herausgeber Schiller: „Das Mährchen wünscht ich getrennt, weil eben bey so einer Producktion eine Haupt Absicht ist die Neugierde zu erregen.“ Auch in diesem Vorhaben, das scheherazadische Prinzip eines Fabulierens in Abbrüchen und hinausgezögerten Fortsetzungen zu adaptieren, erweist Goethe sich als von seinem ‚Lebensbuch‘ Tausendundeine Nacht angeregter Dichter.

Im Zusammenhang mit später nicht verwirklichten Plänen, einen zweiten Teil der Unterhaltungen zu schreiben, teilt Goethe Schiller im Februar 1798 mit:

„Übrigens habe ich etwa ein halb Dutzend Mährchen und Geschichten im Sinne, die ich, als den zweyten Theil der Unterhaltungen meiner Ausgewanderten, bearbeiten … werde.“

Von den geplanten Geschichten, die Goethe zur Zeit seiner Freundschaft mit Schiller nicht niedergeschrieben hat, sind, so vermutet Hans Gerhard Gräf, einige möglicherweise in Wilhelm Meisters Wanderjahre aufgenommen worden. Vielleicht, so mag man hinzufügen, landete auch eines als Der neue Paris in Dichtung und Wahrheit. Dieses „Knabenmährchen” integrierte Goethe als eine Geschichte, die er selbst Gespielen seiner Jugend zu wiederholten Malen vorgetragen haben will, in den ersten Teil der autobiographischen Darstellung, der 1811 erschien.

Wenngleich Goethe in seiner Zeit mit Schiller kein weiteres Märchen außer dem in die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten integrierten zu Papier brachte, haben die Freunde sich etwas ausführlicher noch über ein weiteres ausgetauscht:

Im Februar 1797 schreibt Goethe an Schiller: ”Das Märchen mit dem Weibchen im Kasten lacht mich manchmal auch wieder an, es will aber noch nicht recht reif werden.” Es ist die wohl erste Stelle, an der sich Konturen eines Märchens abzeichnen, von dem Goethe später in Dichtung und Wahrheit behauptet, er habe es Friederike Brion und anderen Freunden Anfang der 1770-er Jahre erzählt: Dieses Märchen, Die neue Melusine, wurde allerdings nicht in die Lebensbeschreibung eingefügt. Sie erschien zuerst in Cottas Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817 und auf das Jahr 1819 in zwei Teilen – hier holt Goethe gleichsam nach, was er sich für das Horen-Mährchen gewünscht hatte: ein Märchen in zwei Teilen zu veröffentlichen. Mit der ersten Publikation der neuen Melusine treibt er das Prinzip allerdings auf die Spitze, indem er den Text mitten im Satz, nach einem „Vernimm also“, abbrechen lässt.

,„Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesammten Märchenwelt sein“ schrieb Achim von Arnim im Oktober 1812 an Jacob Grimm. Dass Goethe alle seine Märchen an Erzählerfiguren bindet und sie jeweils in einen größeren epischen Kontext – in eine Novellensammlung, in seine Autobiographie und in einen Roman – integriert, könnte durch ähnliche Einsichten motiviert sein. Vielleicht gelingt es in einem solchen Erzählrahmen annähernd, „die [so diktiert Goethe im April 1831 in sein Tagebuch] reine Unbefangenheit des Mährchens, welche dessen Hauptcharakter ist,“ zu bewahren. Goethes drei Märchen lassen den atmosphärischen Zauber gesellig-lebendigen Erzählens erahnen. Seine Märchen werden – im Rahmen der Fiktion – nicht in gedruckten Buchstaben ‚fixiert‘. Ihnen bleibt eine Form von Freiheit durch die mündlich-lebendige Form, in der sie dargeboten werden.

Die drei Märchen, die Goethe im Verlauf seines Lebens publiziert hat, können, so Peter von Matt, „als überlebende Zeugen einer großen Produktion mündlicher Geschichten angesehen werden, die alle mit ihrer Entstehung auch schon wieder verhallten und untergingen.” Von zweien dieser Geschichten finden sich zumindest noch Spuren bzw. eine ist als größeres Fragment überliefert:

In der Zeit, in der das Mährchen in den Horen erschien, hatte Goethe mit Der Zauberflöte zweyter Teil einen unvollendet gebliebenen Versuch unternommen, eine Fortsetzung von Mozarts und Schikaneders 1791 uraufgeführter Märchenoper zu schreiben. Mit der Kunstform der Oper wiederum wurde Goethes Märchen, dessen Lichtregie an die der Zauberflöte mit ihrem von den Strahlen der Sonne überglänzten Schluss erinnert, bereits früh in Verbindung gebracht. Novalis nannte es „eine erzählte Oper“. Später sprach Hugo von Hofmannsthal, diesen Gedanken aufgreifend, von einer „innere[n] Oper“ und von einer „Symphonie“, welche die Seele des Lesers „ganz erfüllt“. Goethes der Zauberflöte zweiter Teil, so Hofmannsthal, stehe dem Mährchen „zunächst“: „Wäre es [wieder Hofmannsthal] eine Oper, es wäre leicht die vollkommenste aller Erfindungen, die jemals der Musik gedient haben.“

Mozarts Zauberflöte und Goethes Mährchen haben im Übrigen eine große Nähe zu freimaurerischem Gedankengut gemeinsam: So spielt die Zahl drei in beiden Kunstwerken eine große Rolle. Und das vorhin erwähnte Gespräch in Goethes Mährchen zwischen der Schlange und dem goldenen König, der ihr (prüfende) Fragen stellt, ist am Initiationsritual der Freimaurer orientiert.

Im Zusammenhang mit einem „zweyte[n] Mährchen“, das Goethe damals zu verfassen beabsichtigt, schreibt er im Mai 1796 an Wilhelm von Humboldt und reagiert damit auf dessen positive Resonanz auf das Mährchen, die ich bereits erwähnt habe:

„Was Sie über das Märchen sagen, hat mich unendlich gefreut. Es war freilich eine schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos zu sein. Ich habe noch ein anderes im Sinne, das aber, gerade umgekehrt, ganz allegorisch werden soll […].“

„bedeutend und deutungslos“ – das kann als eine Variante der bereits zitierten Worte des alten Geistlichen beschrieben werden: „ein Mährchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen“.

Und damit komme ich zum dritten und letzten Teil meiner kursorischen Anmerkungen zu Goethes ‚Märchen‘. In Goethes Mährchen treten auf – und allein alle ‚Figuren‘ vollständig aufzuzählen, ist ein Vergnügen: ein Fährmann, zwei Irrlichter, eine Schlange, ein Mann mit einer Lampe, dessen Frau, drei Könige aus Gold, Silber und Erz sowie ein vierter, ein ‚Gemischter‘. Ferner: ein Prinz, die Prinzessin Lilie, drei ihr dienende Frauen, ein Mops, ein Kanarienvogel, ein Habicht, ein Riese und nicht zu vergessen: drei Artischocken, drei Kohlhäupter und drei Zwiebeln. Allein dieses ‚Personenverzeichnis‘ zeigt eine große Erzähllust Goethes.

Alle Figuren und ihr Handeln sind, ich wies bereits darauf hin, in einem komplexen System von Bedingungen, Wandlungsprozessen, Prophezeiungen und Erfüllungen miteinander verbunden. Alles wandelt sich durch-, mit- und aneinander. Mir scheint, dass die Verwandlungsfrequenz im Vergleich z.B. zu den Grimmschen Märchen eine sehr hohe ist; fast möchte man das Mährchen als ‚Metamorphose-Märchen‘ bezeichnen. Unter seinen Figuren gibt es keine, die intentional böse ist: Der Schlange ist nichts von der Verführungsneigung ihrer alttestamentarischen Verwandten zu eigen – im Gegenteil, sie, die ausdrücklich zur Entsagung fähige Figur beschrieben wird, ist zum die Brücke ermöglichenden Selbstopfer bereit. Riese und Irrlichter richten zwar allerlei – stets zu behebendes – Unheil an, aber nicht aus böswilliger Absicht. Goethes Mährchen ist eine Erzählung ohne bösen Wolf und ohne hinterlistige Stiefmutter.

Die beiden Irrlichter, welche die Handlung des Mährchens durch ihr Begehren, vom Fährmann über den Fluss geschifft zu werden, in Gang setzen, sind anders als z.B. in Wilhelm Müllers Winterreise, keine Lichtphänomene, die „in die tiefsten Felsengründe“ locken. Sie sind auch nicht wie im Faust dem Dunstkreis der Walpurgisnacht zugeordnet. Als höchst bewegliche, in immerwährender Verwandlung begriffene Gestalten ‚irrlichteliren‘ sie (um dieses schöne Verb aus der Schülerszene des Faust aufzugreifen) durch das Mährchen und haben auch den letzten Auftritt von allen der oben genannten Märchenfiguren. Dass die Irrlichter, die wandelbarsten aller wandelbaren Gestalten in Goethes Mährchen, es durch zwei ihrer vielen Auftritte rahmen, ist bezeichnend.

Goethes Irrlichter ernähren sich von Gold: Haben sie sich sattgegessen, sind sie wohlgenährt, haben sie das Gold in Form von Goldstücken aus sich geschüttelt, wie es ihre Art ist, sind sie mager und klein. Lachend und spielend, meist sehr galant, charmant und gut gelaunt, bewegen sie sich durch das Mährchen, sind durchaus fähig, „feierlich“ aufzutreten, nehmen aber ernsten Situationen durch „krause[] Verbeugungen“ die Schwere und vergeuden am Ende des Mährchens „auf eine lustige Weise“ nochmals Goldstücke.

Nicht zuletzt die Beschreibung der Irrlichter kennzeichnet ein heiter-schwebender Tonfall, dessen Bedeutung Gonthier-Louis Fink betont: „[W]ie dann auch für die Romantiker“ sei der Humor keine „beliebige Beigabe“; er gehöre vielmehr „wesenhaft“ zu Goethes Mährchen, „von der notwendigen Freiheit des Geistes gegenüber der Intrige“ und „gegenüber den politischen Problemen“ zeugend.

Treten wir vom Licht der Irrlichter und deren Heiterkeiten nochmals ins Dunkle zurück:

Goethes Mährchen beginnt [Zitat] „Mitten in der Nacht“ an „dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war“ – eine gewohnte Form ist verlassen, ein bestimmtes Maß überschritten, eine Gefährdung ist spürbar, welcher Art auch immer sie sei – gesellschaftlicher, sozialer, auf die Umwelt bezogener oder politischer; letzteres – richtet man den Fokus auf die Entstehungszeit – in einer Deutung, die in dem über die Ufer getretenen Fluss „ein Bild für die [politische] Revolution“ sieht, wie z.B. Stefan Neuhaus es tut. Lenkt man die Aufmerksamkeit auf die geographischen Räume, in denen Goethe sich viel und gerne bewegte, mag man in dem Fluss die Saale in Jena wiedererkennen, an deren UferGoethe während eines Spazierganges Ideen zum Beginn seines Mährchens empfangen haben könnte. Betont man den Umstand, dass das Mährchen zu den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gehört, wird man wohl sagen: Was den Personen der Rahmenhandlung der Unterhaltungen mit der Flucht über den Rhein gelungen ist, die Überquerung eines Stromes, gestaltet sich für die Figuren des Mährchens schwierig, beeinträchtigen doch verschiedene Gesetze das Leben und den Austausch über den großen Fluss hinweg, Gesetze wie: der Fährmann darf Fahrgäste nur in eine Richtung übersetzen, er darf nur „mit Früchten der Erde bezahlt“ werden, „in der Mittagsstunde“ kann sich die Schlange zur Brücke über den Fluss wölben, der abends auf dem Schatten des Riesen überquert werden kann. Spürt man in der Topographie des Mährchens Rom-Reminiszenzen auf wie einige Interpreten, darunter Katharina Mommsen, es tun, wird Goethes Märchen-Fluss vor dem inneren Auge zum Tiber mit der Engelsbrücke … Dies nur als ein kleiner Eindruck davon, wohin es führt, wenn man nur bei den allerersten vier Worten des Mährchens „An dem großen Flusse“ in die Interpretationsgeschichte eintaucht —

Das Mährchen endet ohne eine konditionale Einschränkung wie ‚und wenn sie nicht gestorben sind‘ mit dem Bild eines lebendig wimmelnden Austauschprozesses über den Fluss hinweg, eine Bewegung, die (Zitat) „bis auf den heutigen Tag“ andauert. Es ist ein opernhaft anmutendes, gleichsam in leuchtendem C-Dur erklingendes Schlusstableau, das, wie Volker Klotz betont, „kein Volksmärchen so kennt“.

Die Zeit, in der das Mährchen spielt, ist eine Zeit der Erwartungen auf Erfüllungen, eine Zeit, die angekündigt wird durch das insgesamt fünf mal wiederholte „Es ist an der Zeit“, eine Wendung, die sich auch in der Bibel findet, z.B. in der Offenbarung des Johannes. Diese Worte, die im Mährchen leitmotivisch, nahezu musikalisch geführt und variiert werden, indem sie von verschiedenen Figuren an verschiedenen Orten gesprochen, ab und zu auch in indirekter Rede wiedergegeben werden, lenken das Augenmerk auf die Bedeutung der Zeit und auf ihr Dahinfließen, ihr Vergehen – die Bedingung für allen Wandel, für alle Verwandlung.

In den mehrfachen Ankündigungen liegt viel, auch die Ruhe der variierten Wiederholung. Die neue Zeit kommt als prophezeite, nicht durch Revolution, nicht in einem Gewaltstreich.

Der im „Es ist an der Zeit“ angekündigte Zustand der Erfüllung findet am Schluss des Mährchens ein wunderbares Korrelat in einer neuen Form der Zeitangabe, in der Zeit und Raum eins werden: Der Riese ist zu einer steinernen Bildsäule geworden: (ich zitiere) „sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern eingelegt waren.“

Eine Assoziation: Eine neue Zeitrechnung führte auch der französische Revolutionskalender ein – aber das war sicher keine, die in einer ‚edlen‘ Sprache der (Bildenden) Kunst Ausdruck fand.

Der harmonische Schlussakkord des Mährchens kann auch deshalb erklingen, weil es von dem belebt ist, was Goethe gegenüber Schiller einmal als (eine) „Idee“ des Mährchens bezeichnet hat:

„das gegenseitige Hülfleisten der Kräfte und das Zurückweisen aufeinander“.

Oder, mit den Worten des Alten mit der Lampe: „[E]in einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt.“

In diesen Kontexten kann auch der in den Xenien veröffentlichte Zweizeiler „Das Märchen“ verstanden werden:

Mehr als zwanzig Personen sind in dem Mährchen geschäftig.

‚Nun, und was machen sie denn alle?‘ Das Mährchen, mein Freund.

Leichtfüßig tritt dieses Epigramm heiteren Tonfalls ein für die Autonomie der Kunst, die sich um 1800 als eigenständiges System intensiv selbst zu betrachten beginnt. Auf seine Weise spricht es auch über das Zusammenwirken aller, wie Hans Mayer betont:

„Alle [Figuren] … verharren im Zustand partieller Möglichkeiten; alle aber sind schließlich notwendig, um die Schlußharmonie herbeizuführen.“

Angeregt durch Hartmut Reinhardts schönen Aufsatz „Lizenz zum Spielen“ kann man dieses gegenseitige Helfen auch als etwas verstehen, das Gewalt und Revolution verhindert: Jeder trägt bei, was er vermag, aber jeder nimmt sich und sein Begehren gleichzeitig zurück, bändigt seine Leidenschaften und Triebe, auf dass sie nicht in verderblichen Revolutionen ihre Explosivkraft entfalten.

Lassen Sie uns den Blick ein wenig über das Thema ‚Das Mährchen und die Französische Revolution‘ hinaus weiten und auf die, wie mir scheint, gesellschaftstheoretische Tiefenschärfe, die ihm auf subtile Weise zu eigen ist, schauen:

Die ‚Notwendigkeit‘ zum gegenseitigen Helfen erwächst auch daraus, dass alle Figuren spezifischen Bedingungen unterworfen sind – ich darf pars pro toto an die zur Flussüberquerung erinnern –, und dass alle hoch spezialisierte ‚Fähigkeiten‘ oder Eigenschaften haben: Die Schlange kann eine Brücke über den Fluss bilden, sie kann sich zum Ring um den toten Prinzen formen und, Zeit und Raum in dieser Figur eins werden lassend, den Körper vor der Verwesung schützen, bis er ins Leben zurückkehren kann, die Irrlichter vermögen am Ende des Mährchens die Pforten des Heiligtums zu öffnen, weil sie das goldene Schloss einfach „aufzehren“ können, u.s.w.

Fähig-Sein und Bedingt-Sein scheinen zusammenzuhängen: Je spezieller eine Fähigkeit in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, um so höher die Unfähigkeit, ‚anderes‘ zu tun, wodurch man sich einschränken muss, es zu Bedingtheiten kommt.

Kurz: Könnte man in den speziellen Fähigkeiten der Märchenfiguren und in den speziellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, nicht auch ein Bild für eine Gesellschaft sehen, die sich – hier durchaus systemtheoretisch gesprochen – mehr und mehr ausdifferenziert in Teilsysteme?

Goethes Mährchen gelingt es, diese Teilsysteme zu einem sinnhaften Ganzen zusammenwirken zu lassen. Was zum Auseinanderfallen tendiert, denkt sein Text zusammen. Ist dieses Zusammenwirken, das auch bedeutet, dass das Glück der Einzelnen mit dem der Gesellschaft korrelierbar ist, ist dieses Zusammenwirken in die Gestalt eines Märchens gekleidet, weil es für ein zunehmend Unverwirklichbares gehalten werden muss, oder weil das Märchen die Form ist, in der sich am ‚zartesten‘ darüber sprechen lässt?

In den bisherigen Ausführungen klang an, dass ich persönlich das Mährchen gerne lese als Gegenbild zu allem, was zu schnell, zu übereilt, zu unbedacht, zu wenig sozial denkend getan wird und deshalb in Gewalt ausarten kann. Dass ein Antidot gegen Gewalt bzw. ein Mittel zur Verhinderung von Gewalt eine freie und befreiende Heiterkeit sein könnte, habe ich im Zusammenhang mit den Irrlichtern im Mährchen schon anzudeuten versucht.

Schauen wir zum Abschluss noch auf einen humorvollen Umgang mit dem Mährchen:

Ende September 1795 äußerte Goethe in einem Brief an Schiller: „Ich hoffe die 18 Figuren dieses Dramatis sollen, als soviel Rätzel, dem Räzelliebenden willkommen seyn.“.

Diese Hoffnung erfüllte, ja übererfüllte als einer der ersten der kunst- und feinsinnige Prinz August von Sachsen-Gotha und Altenburg. Im Dezember 1795 schreibt er Goethe einen langen Brief, in dem er in humorigem Ton die Idee vorbringt, der Verfasser des Mährchens könne kein anderer als der Evangelist Johannes sein, der demzufolge logischerweise noch leben müss.

Auf 99 Deutungen wolle Goethe warten: Die mit der Märchenzahl ‚drei‘ spielende Zahl 99 deutet auf ein Inkommensurables, auf etwas, das sich verfügendem Zugriff entzieht.

In diesem Warten-Wollen liegen Geduld und Ruhe, ebenso wie ein gründliches Rätselraten Zeit erfordert – und ein genaues Hinschauen, ein Sich-Hinneigen, ein Sich-Zuwenden zum Objekt der Rätselfreuden.

Heiterkeit und die Ruhe des Rätselratens: Ihnen wohnt nichts von dem Absolutheitsanspruch einer ‚richtigen‘ Deutung inne. Heiterkeit und Rätselraten sind keine revolutionären Bewegungen. Liegt auch in einem heiteren, rätselfrohen Umgang mit dem Mährchen etwas, das subtil als ein Einspruch gegen alles, was zu schnell, was zu ‚velozieferisch‘ ist, ein Vorbehalt gegenüber revolutionären, gegenüber gewaltsamen Ereignissen?

Vielleicht – Ich denke an einen Dialog zwischen Papageno und einem Herrn in Goethes Zauberflöten-Fragment, der die Bedeutung der Möglichkeit, in heitere Distanz treten zu können, pointiert ausspricht:

HERR: Du bist also noch immer weiter nichts als ein Lustigmacher?

PAPAGENO: Und deshalb unentbehrlich.

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