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Tumult im feurigen Gemüte – Goethe und Nicolai

erstellt am: 08.11.2019 | von: beke | Kategorie(n): Rückblick

Vortrag von Dr. Michael Knoche, Weimar, am 6. November 2019 in Gera

Der Literaturstreit zwischen Goethe und Nicolai war eine epochemachende Kontroverse. Konträr standen sich zwei Literaturauffassungen gegenüber: Der Streit artete zu einer „ästhetischen Prügelei“ aus, so der Titel eines zeitgenössischen Buches.

Alles begann mit Goethes „Leiden des jungen Werther“, mit dem einsetzenden Werther-Fieber angesichts unglücklich verlaufender Liebe. Eine junge Frau ertrank in der Ilm – und sie soll einen „Werther“ in der Tasche gehabt haben. Sie blieb nicht der einzige Fall. All diese Selbstmordereignisse veranlassten Goethe, der zweiten Auflage ein Motto voranzustellen: Sei ein Mann und folge mir nicht nach.

Christoph Friedrich Nicolai (1733 – 1811) war ein deutscher Schriftsteller, Verlagsbuchhändler, Kritiker, Verfasser satirischer Romane und Reisebeschreibungen, Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, Freund Lessings, Zelters und Mendelssohns, Gegner Kants und Fichtes.

Er fühlte sich 1775 veranlasst, mit einer eigenen Fassung des Schlusses von „Werther“ zu reagieren. Dieser Text „Freuden des jungen Werther“ umfasste 60 Seiten. Manche Namen sind verändert, im Mittelpunkt steht eine belehrende Unterhaltung zwischen Hans und Martin. Albert und Lotte sind auch nicht verheiratet, sondern verlobt. Albert überlässt Werther seine Pistole, die aber nicht mit einer Patrone, sondern mit einer Blase von Hühnerblut geladen ist. Nach dem Schuss bietet er an, auf seine Braut zugunsten Werthers zu verzichten. Die „Leiden“ beginnen nach einigen Jahren Ehe mit Lotte, bis beide auseinander gehen. Die „Freuden“ beginnen erneut, als es Albert gelingt, die Eheleute wieder zusammenzubringen. Nach 16 Jahren haben sie acht Kinder: Sie sind ein Anblick errungener gesunder Gelassenheit.

Es heißt, Nicolai habe sich gegen Goethes „Werther“ gar nicht als Kunstwerk an sich gewandt. Vielmehr sei die schlimme Wirkung des Buches im bürgerlichen Lager sein Thema gewesen. Nicolais Schluss, freilich, verändert alles. Ohne den Selbstmord Werthers hängen Personen und Ereignisse gewissermaßen in der Luft.

Hier setzen die konträren literarischen Auffassungen ein. Ohne Absicht, gewollte Wirkung sei Literatur gar nicht vorstellbar, so Nicolai. Das Positive sei ihr Lebenselement. Nicolai unterstellt somit der Geschichte einen positiven Zweck. So nehmen auch die „Freuden des jungen Werther“ einen glücklichen Ausgang. Manche Zeitgenossen hielten Nicolais Text für eine reine Parodie voller Hintersinn. Aber es handelte sich gattungsmäßig um keine Parodie und unterstellte Ironie, sondern um eine kommentierende Nachdichtung.

Nicolai stellt seine auf erzieherische Wirkung bedachte Auffassung, jener des jungen, dem Sturm und Drang anhängenden Goethe gegenüber, der das Recht des Genies auf rein ästhetische, absichtslose Abfassung verteidigte.

Goethe antwortete mit drei Gedichten. Zunächst wurden sie nicht veröffentlicht, eines 38 Jahre später in „Dichtung und Wahrheit“. Da blickt er schon reichlich gelassen auf jene Episode zurück. Anders noch zur Zeit ihres leidenschaftlich geführten Streits. Die „Freuden des jungen Werther“, mit denen sich Nicolai hervortue, zeugten von dessen Beschränktheit. Am bissigsten/bösartigsten zeigt sich jedoch eine von Goethe verfasste, ersonnene Grabinschrift „Nicolai auf Werthers Grabe“, die da lautet:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,

Ging wohl eratmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“

Wie gesagt, klingt alles später doch recht versöhnlich. Auch wurde anhand der Benutzerliste klar, dass sich Goethe 1813 Nicolais Büchlein durchaus für mehrere Wochen ausgeliehen hatte. Zuvor hatte er da ein wenig geflunkert. Im Übrigen waren sie sich nur einmal – in Gotha – kurz begegnet.

Die Kampfeslust erwachte [nach der Werther-Kontroverse 1775] mit einem neuen Text: der zwölfbändigen „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781“. In diesem Werk erschien ein Text, der mit der Reise gar nichts zu tun hatte: eine Kritik an Schiller. Ãœber hundert Seiten richteten sich gegen die Weimarische Kunstauffassung, gegen Schillers Zeitschrift „Die Horen“ und die Transzendentalphilosophie Kants. Diese Schrift erschien 1795. Nicolai machte sich zum Anwalt des Publikums, das „scholastische Spitzfindigkeiten“ [vermutlich insbesondere Schillers ästhetische Schriften gemeint] nicht mehr wolle und von denen es keinen Nutzen habe.

Hatte insbesondere Goethe auf Nicolai nicht reagiert, wurde der Streit nunmehr öffentlich ausgetragen. Dies geschah in Goethes und Schillers „Xenien“[griech. Gastgeschenke, satirische Distichen] im „Musenalmanach“. Verschiedene Verse antworten auf die „Reisebeschreibung“.

Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,
Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.

Querkopf! schreiet ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel,
Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus.

Nicolai entdeckt die Quellen der Donau! Welch Wunder!
Sieht er gewöhnlich doch sich nach der Quelle nicht um.

Nichts kann er leiden was groß ist und mächtig, drum herrliche Donau
Spürt dir der Häscher so lang nach, bis er seicht dich ertappt.

Insgesamt sind 39 Xenien gegen Nicolai gerichtet. Sogar sein Name wurde zu Nickel verhunzt. Die „Xenien“ waren recht bissig, schreckten auch davor nicht zurück, einen Schlaganfall Nicolais zu parodieren. Hier wird die Grenze zur Gemeinheit überschritten.

Rührt sonst einen der Schlag, so stockt die Zunge gewöhnlich,
Dieser, so lange gelähmt, schwatzt nur geläufiger fort.

Nicolai reagierte sofort. Seine Wertung bezog sich auf einen „Anhang zu Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797“, wo die „Xenien“ erschienen waren. Er spricht von Pöbeleien der „Götterlieblinge in Weimar“. Benennt sie als Raufbolde. Er kritisiert Schillers Arbeit „Ãœber die ästehetische Erziehung des Menschen“ und Goethes „Wilhelm Meister“. Letzteres triebe den Frauenzimmern die Schamröte ins Gesicht. Schiller werde von Eigendünkel beherrscht, er übe Geistesdespotismus aus. Goethe und Schiller antworteten darauf öffentlich nicht mehr. Vom Sturm und Drang bis zur Romantik wurde Nicolai als platter Rationalist verspottet. Aus anfänglicher Freundschaft entstand so manche Gegnerschaft: Tieck, Wieland, Gleim. Fichte verfasste sogar eine Streitschrift „Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinungen“. Der lauteste Paukenschlag erfolgte allerdings in Goethes „Faust“. Vorausgegangen war eine Erkrankung des Geschmähten; er litt 1791 an einer körperlichen Störung. Eine Folge davon war die Wahrnehmung von Geistererscheinungen. Er verfiel zur Heilung auf eine damals übliche Methode: auf Blutegel, die seinem Gesäß aufgelegt wurden. Vollends Gegenstand des Spottes wurde er allerdings, als er vor keinem geringerem Gremium als der Akademie der Wissenschaften zu Berlin des Langen und Breiten über seine Heilerfolge berichtete. Postwendend ließ ihn Goethe in der „Walpurgisnacht“ als „Proktophantasmist“ (Steißgeisterseher) in Erscheinung treten.

An besagter Stelle heißt es:

Ihr seid noch immer da! Nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel.
Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.
Wie lange hab’ ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört!

Das wird von Mephisto wie folgt kommentiert:

Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert [sich Erleichterung verschafft]
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist kuriert.

Auch die Schlegels machten sich in der Zeitschrift „Athenäum“ über Nicolai lustig: „Verschwindet etwas, wenn man sich sechs Blutigel an den After setzen lässt, so ist es eine bloße Erscheinung; bleibt es, so ist es eine Realität“. Die Zeitgenossen wussten, wer damit gemeint war.

Weiter heißt es im „Faust“:

Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch?
Hat man euch lange nicht bewiesen:
Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füßen?
Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich!

Der Proktophantasmist vermag indes nur zu langweilen, wie „Die Schöne“ ihm vorwirft:

Die Schöne:

So hört doch auf, uns hier zu ennuyieren!

Und es heißt weiter:

Ich sag’s euch Geistern ins Gesicht:
Den Geistesdespotismus leid ich nicht;
Mein Geist kann ihn nicht exerzieren.

Heut, seh ich, will mir nichts gelingen;
Doch eine Reise nehm ich immer mit
Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt
Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.

Nicolai findet sich auch in der Person des Mittlers in Goethes „Wahlverwandtschaften“ wieder. Er zeigt sich zwar moralisch überlegen, aber genau dies stiftet Unheil. So erweist sich Nicolai für viele Germanisten-Generationen als Prügelknabe. Erst in jüngerer Zeit wird er rehabilitiert. Er bewirkt Anregungen zu ästhetischen Debatten. Davon zeugt zum Beispiel seine „Abhandlung zum Trauerspiele“.

Sein Versuch, den Dingen eine sozial-integrative Wendung zu geben, wurde von Vielen für richtig gehalten. Allerdings geriet er in den 90-er Jahren des 18. Jahrhunderts in die Defensive. Seine auf Wirkung zielende Funktion der Kunst stand der Autonomie-Auffassung des anderen Lagers gegenüber. Der Künstler sei unabhängig, hieß es dort, diese Position einer konkreten Kunst- und Lebensauffassung wurde mit großer Leidenschaftlichkeit verteidigt.

Es bleibt die Frage der Legitimität. Angriffe der Gegener auf die jeweilige Person, einschließlich Spiel mit derem Namen, gehörten damals zur Tradition, zur „Streitkultur“.

Dagegen formulierte Lessing eine „vernünftige Kritik“: „Jeder Tadel, jeder Spott, den der Kunstrichter mit dem kritisierten Buch in der Hand gut machen kann, ist dem Kunstrichter erlaubt.“ Es ging um die Frage, ob man den unliebsamen Gegner mit Hilfe von rhetorischen Mitteln – durch Spott und Tadel also – bekämpfen und kompromittieren dürfe. Sicherlich. Aber sobald der Kunstrichter mehr zu wissen glaube, als aus den Schriften des Autors ersichtlich, gerate dies zu persönlicher Beleidigung, Klatscherei und Anschwärzerei, und man erweise sich letztlich als bloßer Pasquillant.

 

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