Vortrag von Prof. Hans-Joachim Kertscher, Halle, am 2. April 2014
Das 18. Jahrhundert wird oft in der Forschung als ein Zeitraum charakterisiert, in dem sich neue Formen einer Geselligkeit herausbilden, die mit dem Attribut „bürgerlich“ näher bezeichnet und damit dem feudalen Geselligkeitsideal diametral gegenübergestellt werden. Gerade Halle bot sich hierfür an, als eine Stadt „vieler feiner und geschickter Köpfe und gelehrter Leute“ (Hieronymus Megiser). Sie ist geradezu prädestiniert für die Gründung einer Universität.
Nach der 1694 erfolgten Gründung der Fridericiana ist davon nicht mehr viel zu spüren. Der nach dem Tod Luthers (1546) einsetzende Streit um die Adiaphora (Mitteldinge) wie Tanzen, Spaziergang, Theater und andere Vergnügungen, die in der Bibel weder als gut noch böse apostrophiert erscheinen, sollte nun entschieden werden. Der Streit endete zunächst ergebnislos. Erst angesichts der rohen Sitten infolge des Dreißigjährigen Krieges mit seinen kulturellen Ausschweifungen, ihren frivolen Tänzen, barbarischen Trinkgelagen und banalen Komödien fühlten sich hallesche Pietisten bemüßigt, den Streit wieder aufzunehmen und bis zum Ende auszufechten – dies, indem sie die Adiaphora als böse kennzeichneten. Selbst die laute fröhliche Unterhaltung, schöne Blüten und das Singen der Vögel galten als bedenklich.
Die Kollegien an der Universität erhielten folglich den Charakter von Erbauungsstunden, die Erweckung wurde zur Hauptsache, das emsige, geduldige Arbeiten in menschlicher Wissenschaft erschien fast überflüssig. Alle Gläubigen jubelten über die wundervollen Offenbarungen göttlicher Gnade, die Gegner klagten über zunehmende Melancholie, über Geistesstörungen und Verrücktheiten der schlimmsten Art.
Es ist für Halle aus den genannten Gründen typisch, dass sich gesellige Runden zunächst nur zur Pflege einer gelehrten Geselligkeit zusammenfanden. Um 1733 hatte sich in Halle u. a. Eine von dem Theologiestudenten Samuel Gotthold Lange gegründete Gesellschaft zur Beförderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit etabliert. Mit der Aufnahme von Immanuel Jacob Pyra (1715 – 1744) wurde das Unternehmen etwa um 1735 stark belebt. Der Erste Hallesche Dichterkreis, in dessen Tradition beispielsweise Klopstock und Hölderlin einzubetten wären, hatte sich konstituiert. Ein Lehrgedicht Pyras, das dieser seinem Freund und Kommilitonen Lange zum Amtsantritt als Pastor in Laublingen zugeignet hatte, begründet die Poetologie, der sich die beiden Dichterfreunde verpflichtet fühlten. Beide präsentieren ein neues Geselligkeits- und Freúndschaftsideal. Man beschäftigt sich mit Übersetzungen der lateinischen Oden von Horaz (65 – 8 v.Chr.), und es entstehen die deutlich von den Römern beeinflussten Thirsis und Damons freundschaftliche Lieder. In dieser Sammlung finden die Autoren, deren erste Gedichte noch sehr stark von einer pietistischen Innerlichkeit geprägt waren, auch neue Töne lyrischen Schreibens. Sie feiern die Freundschaft, empfinden Naturerlebnisse lyrisch nach und stellen damit der dominierenden rationalistischen Dichtung neue Akzente entgegen.
Zu den Dichtern des Zweiten Halleschen Dichterkreise gehörte Johann Peter Uz (1720 – 1796). Er wie die anderen jungen Dichter stellten dem pietistischen Erweckungserlebnis die scherzhafte, eben anakreonistische Erweckung gegenüber. Neben Uz gehörten zu dem Dichterkreis der Jurastudetn Johann Wilhelm Kudwig Gleim (1720 – 1803), der später als deutscher Anakreon gefeiert wurde, der Theologiestudent Johann Nikolaus Götz (1721 – 1781) und der Fecht- und Sprachlehrer Paul Jacob Rudnick (1719 – 1741).
Gleim: Zu Gedichten im Stile Anakreons, versuchte Gleim, die Ballade im deutschen Sprachraum sesshaft zu machen. Spektakuläres leistete der unermüdlich am Plan einer Deutschen Literaurgesellschaft schmiedende Organisator Gleim. Von Halberstadt aus betrieb er ein weit verzweigtes Korrespondenznetz, in das über 500 Briefpartner einbezogen waren. Sein „Freundschaftstempel“ mit nahezu 150 Porträts bedeutender Zeitgenossen, seine Bibliothek mit über 11000 Bäden, die Kleinodien der deutschen Literaturgeschichte birgt, sowie seine Handschriftensammlung stellen wesentliche Quellen für Forschungen zum 18. Jahrhundert dar. Auch als Mäzen für junge Dichter ist Gleim aus der deutschen Kulturgeschichte nich wegzudenken. Anna Louisa Karsch, Johann Georg Jacobi, Gottfried August Bürger, Wilhelm Heinse, Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Seume und Jean Paul gehörten zu seinen Schützlingen.
Der Begriff „Anakreontik“ geht auf das Vorbild Anakreons aus Teos zurück, der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts vor Chr. lebte. Er ist in die Literaturgeschichte fälschlicherweise als Dichter des Weins, der Liebe und des Gesangs eingegangen. Von Anakreon selbst sind uns nur drei vollständige Gedichte und etwa 150 Fragmente überliefert. Sie widmen sich unterschiedlichen Themen, so auch dem Wein und der Liebe. Die Bezeichnung Anakreontik aber geht auf 60 Gedichte von Anakreon-Epigonen aus späthellenistischer Zeit zurück. Diese, auch Anakreonteen genannten Texte wurden 1554 von Henri Estiennes publiziert. „Die strophenlose Odenform, der reimlose anakreontische Kurzvers, die Neigung zu anaphorischer Reimung, die liebevolle, oft allegorisch-verblümte Darstellung kleiner poetischer Gegenstände und die ihnen angeglichene, leichte, jedes bedeutungsschwere Wort scheuende Sprache“ sind kennzeichnend für die von Estienne publizierten anakreontischen Strophen.
Freilich wäre es falsch, den Sängern des Weins und der Liebe, wie dies zeitgenössische Kritiker taten, Alkoholismus und Werbung für häufig wechselnden Geschlechtsverkehr, nachzusagen. Es handelte sich nicht nämlich nicht um Erlebnisgedichte, die Feier fand im Gedicht, nicht in der Realität, statt.
So formulierte Friedrich von Hagdedorn in seinem Gedicht „An die heutigen Encratiten“:
Zu altdeutsch trinken, taumelnd küssen
Ist höchstens nur der Wenden Lust:
Wie Kluge zu geniessen wissen
Verbleibt dem Pöbel unbewusst,
Dem Pöbel, der in Gift verkehret
Was unserm Leben Stärkung bringt,
Und der die Becher wirklich leeret,
Wovon der Dichter doch nur singt.“
Auch Johann Peter Uz wollte dieser Art des realen Genusses den biederen Bürgern überlassen:
Trinkt euern Wein in Ruh
und schlaft bei euern Weibern.
So nutzt ihr doch dem Vaterland
Und wenigstens mit euern Leibern.“
Die erste größere Publikation aus der Mitte der halleschen Anakreontiker war die 1746 publizierte Ãœbersetzung der Anakreonteen unter dem Titel „Die Oden Anakreons in reimlosen Versen“. Dies war ein Gemneinschaftswerk von Götz und Uz. Die erste Publikation mit eigenen anakreontischen Texten stammt von Gleim. Sie kam 1744 anonym unter dem Titel „Versuch in Scherzhaften Liedern“ heraus und fand rasch Verbreitung. Somit wurde Gleim als „deutscher Anakreon“ gefeiert. Johann Nikolaus Götz folgte Gleim 1745 mit dem „Versuch eines Wormsers in Gedichten“, ebenfalls anonym erschienen. Uz schließlich publizierte 1749 seine „Lyrischen Gedichte“. Sie wurden von Gleim herausgegeben. Hier findet sich die Ode „Die lyrische Muse“ mit den folgenden Versen:
„Denn nur von Lust erklingt mein Saitenspiel,
Und nicht von Leichen vollem Sande
Und kriegrischem Gewühl
Und vom gekrönten Sieg im blutigen Gewande.
Uz‘ Muse gibt sich – im Gegensatz zu der seines Freundes Gleim – ebenfals betont unkriegerisch. „Krieg und Helden sind kein Stoff für meine Lieder“, schreibt er 1757 nach Halberstadt. Selbst in seiner Ode „Das bedrängte Deutschland“ lautet die letzte Strophe:
„Doch mein Gesang wagt allzuviel!
O Muse! Fleuch zu diesen Zeiten
Alkäeus kriegrich Saitenspiel,
Das die Tyrannen schalt
und scherz auf sanften Saiten.“
Reduziert man Aufklärung auf Begriffe wie Selbstdenken und Vernunftprimat, wird man die Anakreontik wohl schwerklich zu ihr rechnen können. Begreift man jedoch Aufklärung als eine Bewegung, die auf Geselligkeit, auf Emanzipation des Gefühls, auf sinnlichen Genuss, auf Kultur und Zivilisation im weitesten Sinne aus war, also auch auf Schönheit und deren Kraft insistierte, dann war Anakreontik Aufklärung par excellence.